Reportage: Falsche Versprechen
Rauh ist das Mittelmeer der Costa Brava in den ersten Wintertagen. Weiße Schaumkronen tragend, rasen die Wellen Richtung Küste, um sich tosend an den Felsen zu brechen. Angefacht vom Tramontana, jenem kalten und gefürchteten Wintersturm, der aus Norden von der anderen Seite der Pyrenäen kommt. »Vom Tramontana berührt« ist eine zärtliche Redewendung in Katalonien, um auszudrücken, dass eine Person nicht mehr alle Tassen im Schrank hat. Doch dieses Jahr lässt nicht der Tramontana die Leute verrückt werden, sondern die zweite Welle der Coronaviruspandemie.
Gedankenversunken blickt Agnés auf die gen Land rollenden Wogen. Hier, wo Meer und Berge aufeinandertreffen, sucht sie ihren Frieden, in den pilzreichen Küstenwäldern findet sie etwas Geborgenheit in diesen beängstigenden Zeiten. »Das ist ein großer Unterschied zum Shutdown der ersten Coronawelle. Wir dürfen uns wenigstens tagsüber in unserem Landkreis bewegen.« Doch die existentiellen Sorgen sind so groß wie damals.
Es ist ungewöhnlich schön, dass die Costa Brava mit der Pandemie plötzlich nur noch den Einheimischen gehört. Das war schon lange nicht mehr so. Auf den Spuren des surrealistischen Malers Salvador Dalí zog es in den letzten Jahren der Militärdiktatur vor allem die französische Bohème an die »wilde Küste« Kataloniens. Stück für Stück eroberten Künstler, Dichter und Intellektuelle die heute wieder verlassenen Buchten und Fischerdörfer. Sommerresidenzen wuchsen an den Bergen, kleinere Hotelkomplexe und Campingplätze schossen aus dem Boden.
Die ganze Region ist heute wirtschaftlich vom Tourismus abhängig. In Gemeinden wie Castell-Platja d’Aro wohnen im Sommer normalerweise fünfmal so viele Menschen wie im Winter. Dieses Jahr ist alles anders. Die internationalen Touristen blieben im Sommer aus, und gegen Ende der Saison durften noch nicht einmal die wohlhabenden Städter aus Barcelona zu ihren Zweitwohnsitzen an der Costa Brava fahren. Mehr Pilze in den Küstenwäldern für die Einheimischen. Und mehr Sorgen, wie sie die Miete bezahlen sollen.
Verlust und Gewinn
»Ich fühle mich, als ob mich diese neue Realität erdrücken würde.« Agnés Mine wird so schroff wie die Küste, und ihre Augen werden so trüb wie das vom Tramontana aufgewühlte Meer. Normalerweise arbeitet sie im Ortsteil Platja d’Aro als Rezeptionistin eines Fitnessstudios. Mit 1.100 Euro netto für eine 40-Stunden-Woche von Montag bis Samstag verdient sie verhältnismäßig gut. Und im Vergleich zu den meisten Servicekräften in der Gastronomie und im Hotelgewerbe wurde sie mit dem Shutdown nicht vor die Tür, sondern nur auf 70 Prozent Kurzarbeitergeld gesetzt. Trotzdem steht sie gerade wieder ohne jegliche Einkünfte da. »Ich kenne nicht eine Person, die während der ersten drei Monate Shutdown das Kurzarbeitergeld ausgezahlt bekommen hat.«
Trotz strikten Sparens habe sich in ihrem Haushalt ein Berg an Schulden angehäuft. »Keine Ahnung, wie ich den von meinem schmalen Gehalt abbezahlen soll.« Um sich Reis, Nudeln und Gemüse zu kaufen, bekommt sie jetzt ab und zu 20 Euro von ihrer Mutter zugesteckt: Sie gehört zu den Gewinnern der Coronakrise. Arbeitete sie vorher nur als Tagelöhnerin für die staatliche Post, hat sie jetzt einen auf drei Monate befristeten Vertrag als sogenannter Containment Scout für das Gesundheitsamt. Für 1.200 Euro netto stellt sie Quarantänebescheide aus und verfolgt Infektionsketten.
Wenige Meter entfernt von Agnés verwaistem Fitnesscenter in Platja d’Aro arbeiten seit Ende Juli zwei Containment Scouts. Während der gesamten ersten Welle waren die Ärzte des kleinen Centro de atención primaria (CAP) – einer einfachen Poliklinik – verantwortlich für die Fallermittlung. Noch nie in seinem Leben hat Dr. Javier O’Farrill so viele Überstunden geschoben wie in den letzten Monaten. Jetzt, am Ende der zweiten Welle, wird es langsam wieder etwas ruhiger. Der Mediziner und Gewerkschafter blättert Dienstpläne von Kollegen durch. »Sieh dir das an: Um zehn Uhr sollte diese Kollegin Sprechstunden für sieben Patienten geben. Um 10.06 Uhr hatte sie einen und um 10.12 Uhr drei Patienten. Wie ist das möglich?«
Seit knapp 20 Jahren arbeitet der kubanische Allgemeinmediziner in Katalonien. »Eigentlich ist das Gesundheitssystem im spanischen Staat viel gerechter als beispielsweise in Deutschland. Der Staat ist verpflichtet, allen Menschen einen kostenlosen Zugang zu medizinischer Behandlung zu gewährleisten. Aber in den letzten zehn Jahren wurde das staatliche Gesundheitssystem kaputtgespart, um einen Markt für private Akteure zu öffnen.« Diese haben sich vor allem im profitablen Krankenhausgeschäft breitgemacht.
Und natürlich profitierten von dem durch die EU angeordneten Kürzungs- und Privatisierungsdiktat auch deutsche Konzerne. Der Dax-Konzern Fresenius-Helios ist dabei der größte Player unter der wachsenden Zahl an Privatklinikbetreibern. Erst wenn das staatliche System richtig kaputtgekürzt ist, kann Privatisierung als Befreiung verkauft werden. Während im Herbst die staatlichen Häuser erneut vor dem Kollaps standen, liefen im katalanischen Fernsehen Werbespots für private Krankenversicherungen in Dauerschleife: »Wir sind für Sie da. In jeder Lebenslage. Zu jeder Zeit.«
In der Poliklinik von Platja D’Aro ist die Situation in der Primärversorgung wesentlich besser als in vielen anderen Orten. Ohne die sonst zahlreichen Touristen stehen etwas mehr Kapazitäten für die Bevölkerung zur Verfügung. (Foto: SZM)
Besser, aber nicht gut
Die Ambulanz im CAP von Platja d’Aro wirkt verwaist. Von den knapp 100 Sitzen im Warteraum sind nur zwei von einem Pärchen besetzt, das auf das Ergebnis seines Coronaschnelltests wartet. Die Anzahl der leeren Plätze lässt erahnen, wie hoch der Andrang hier normalerweise ist. Ein Großteil der Sprechstunden wird telefonisch durchgeführt: Ferndiagnosen in sechs Minuten. Die wenigen Patienten, die für Präsenzuntersuchungen kommen, können in dem großzügigen Gebäude relativ gut von den Covid-Verdachtsfällen getrennt werden. Lediglich an der Rezeption kreuzen sich Infizierte der roten Zone mit den Patienten der grünen Zone. In anderen Polikliniken des Landes sind die beiden Bereiche teilweise nur durch eine Linie in der Mitte eines zwei Meter breiten Flures getrennt.
Sicher, nicht alles, was glänzt, ist Gold. In Platja d’Aro sieht die Situation in der Primärversorgung deutlich besser aus als in vielen nichttouristischen CAP. Hier gibt es nicht nur moderne Räumlichkeiten, während der Pandemie stand auch mehr Personal zur Verfügung. Die Medizin an der Costa Brava ist wie der Tourismus ein Saisongeschäft. Die normalerweise dazu befristet angestellten »Sommerärzte« und Pflegekräfte werden wegen der Coronakrise bis Dezember weiterbeschäftigt. »Wir sind wirklich sehr glücklich, dass wir die Gelder für die Vertragsverlängerungen bekommen haben.« Die Direktorin schielt kurz zu der Pressesprecherin herüber, die aus der Provinzhauptstadt für den Besuch angereist ist, bevor sie weiterspricht. »Damit kommen wir jetzt auf einen Schlüssel von 1.400 Patienten pro Arzt. Das ist besser als der Durchschnitt in Katalonien, der bei 1.500 liegt. Doch weit unter dem tariflich verankerten Schlüssel von 1.300.«
Dass es im spanischen Staat diesen großen Mangel an medizinischem Fachpersonal gibt, obwohl in fast keinem anderen europäischen Land so viele Ärzte, Ärztinnen und Krankenpflegekräfte ausgebildet werden, liegt nicht nur an zu wenigen Neueinstellungen, sondern auch an den katastrophalen Arbeitsbedingungen. In der Pflege hat wie bei der Post moderne Tagelöhnerei Hochkonjunktur. Befristete Verträge von drei Monaten sind beinahe ein Luxus. Jahrelange Kettenbefristungen mit Verträgen über eine Woche oder einen Tag sind keine Seltenheit. In dem Vorzeige-CAP in Platja d’Aro arbeitet ein Viertel der Pflegekräfte mit befristeten Verträgen. In anderen Häusern ist es teilweise mehr als ein Drittel.
Seit einem Ärztestreik im Jahr 2018 hat sich die Situation etwas verbessert. Doch die Gehälter liegen noch immer durchschnittlich fünf Prozent unter dem Niveau von 2008. Zudem gibt es 500 Ärzte weniger, und die Ausgaben für das Gesundheitswesen in Katalonien liegen ein Prozent unter dem Niveau von 2010. Das Gesamtvolumen des katalanischen Haushalts ist im selben Zeitraum um 30 Prozent gewachsen.
Demgegenüber wirkt die Erhöhung des Gesundheitshaushaltes des Zentralstaates phänomenal: Um ganze 75 Prozent möchte die linke Regierung in Madrid die Ausgaben für Gesundheit im kommenden Jahr steigern. Der Großteil dieser Erhöhung auf 3,14 Milliarden Euro stammt aus Hilfsmitteln der EU. Ein Drittel des Geldes soll in den Kauf von Coronaimpfdosen fließen. Ein weiterer Teil beinhaltet den Ausbau der zahnmedizinischen Versorgung und eine Lohnsteigerung von 0,9 Prozent. Das letzte Drittel fließt in eine strategische Neuausrichtung der medizinischen Primärversorgung.
»Das ist die Schocktherapie, die wir in der Primärversorgung brauchen!« Ein leichtes Pathos schwingt in der Stimme des Chefstrategen Rafael Ruiz mit. Er spricht von Anerkennung, von der geplanten Lohnerhöhung. Doch konkret wird er nur in einem Punkt: »Wir brauchen organisatorische Reformen im System.« Für eine Entbürokratisierung werden mehr Verwaltungskräfte gebraucht, kein medizinisches Personal.
Das sei ja schön und gut, aber ohne Aufstockung der medizinischen Kräfte »werden wir unsere Patienten nicht besser versorgen können«, befürchtet der Allgemeinarzt O’Farrill. Mit diesen Maßnahmen würde nur noch der Druck verschärft, mehr Personen in weniger Zeit zu behandeln. »Sechs Minuten für einen Patienten, das ist inhuman.« Kritisch sieht er auch die Tendenz, dass alle anderen Fachrichtungen außer der Allgemeinmedizin Stück für Stück aus den CAP ausgegliedert werden: Zahn- und Kindermedizin, Radiologie und Gynäkologie sind immer öfter Leistungen, die von externen Trägern angeboten werden. In Madrid dürfen in Polikliniken beschäftigte Ärzte ihre Patienten für Untersuchungen teilweise nur noch an private Kliniken überweisen. Und die strategische Neuausrichtung der Primärversorgung soll hauptsächlich aus administrativen Reformen bestehen?
Warten in Dauerschleife
Wie schwierig es ist, adäquate Hilfe im spanischen Gesundheitssystem zu bekommen, musste Agnés erst vor kurzem wieder erleben. »Es ist fast unmöglich, einen Termin zur Regeluntersuchung in der Gynäkologie zu bekommen. Letztes Jahr habe ich dafür Schmerzen vorgetäuscht, und mir wurde ein dringender Verdacht auf Gebärmutterhalskrebs diagnostiziert.« Um diesem dringenden Verdacht nachzugehen, war eine Überweisung zur Entnahme einer Gewebeprobe notwendig. Das spanische Gesundheitssystem sieht drei verschiedene Dringlichkeitsstufen für weiterführende Behandlungen vor. In dringenden Fällen muss der Termin binnen einer Woche gemacht werden, in Präferenzfällen binnen 30 Tagen und für nicht dringliche Angelegenheiten innerhalb von drei Monaten. Diese garantierten Wartezeiten würden laut Ruiz weitestgehend eingehalten.
Agnés musste jedoch andere Erfahrungen machen. »Auf die erste Biopsie, mit der sich der Verdacht erhärtete, musste ich fast drei Monate warten.« Kein Einzelfall, meint Dr. O’Farrill: »Präferenzfälle müssen oft 90 Tage auf einen Termin warten. Normale Fälle neun Monate oder länger.« Am 12. März sollte in einer erneuten Biopsie entschieden werden, ob Agnés’ Geschwür operativ entfernt werden muss. Aufgrund der Pandemie wurde dieser Termin zweimal verschoben. Ende Juli wurde festgestellt, dass sich das Geschwür aufgelöst hat und keine weitere Behandlung nötig ist.
Ein Glück, das nicht alle Patienten hatten, deren Therapien wegen der Pandemie aufgeschoben wurden. Bis Ende November starben im spanischen Staat nach Angaben des Nationalen Instituts für Statistik knapp 71.000 Personen mehr als bis zum selben Zeitpunkt im Vorjahr, davon jedoch nur rund 43.000 an oder mit Covid-19. Ein Kollateralschaden von 28.000 Menschenleben, mutmaßlich aufgrund ausgesetzter Behandlungen.
Den jetzigen Shutdown ohne die Angst zu durchleben, dass im eigenen Körper etwas wächst, das dich zerstören kann, ist eine große Erleichterung für Agnés. Das Salz des Wassers, das die gigantischen Felsen langsam zu Sand zermahlt, schmeckt anders. Die Winterwinde des Tramontana, welche die Strände mit totem Treibholz übersähen, lassen sie nur noch körperlich zittern. Und nach all den Monaten der Pandemie sollten die Ämter auch besser eingespielt sein, um schneller die gröbsten existenziellen Sorgen mit Kurzarbeitergeld abzuwenden. Noch wurde ihr die Hilfe nicht überwiesen. »Aber meine Kollegin hat letzte Woche nach weniger als zwei Monaten Wartezeit die erste Zahlung bekommen: 24 Euro.«
(Veröffentlicht am 19.12.2020 in Junge Welt)