Interview: »Der einzige Weg, Druck auszuüben, ist der Streik«

Sie haben 30 Jahre lang in der Epidemiekontrolle und beim Aufbau öffentlicher Gesundheitssysteme in Afrika und Lateinamerika gearbeitet. Seit dem Ausbruch von Covid-19 sind Sie als Epidemiologin für das katalanische Gesundheitsamt tätig. Wie bewerten Sie den Kampf gegen die Pandemie im spanischen Staat?

In der Vergangenheit habe ich immer in Ländern mit begrenzten Ressourcen gearbeitet und gegen Epidemien und vergessene Krankheiten wie Cholera, Malaria, HIV oder Meningitis gekämpft. Ich bin verblüfft, dass im spanischen Staat die vielen zur Verfügung stehenden Ressourcen nicht auf die Stärkung des Gesundheitssystems, vor allem auf die Primärversorgung konzentriert werden. Die Regierung scheint die Coronapandemie mit politischen statt wissenschaftlichen Mitteln bekämpfen zu wollen.

Was halten Sie von den politischen Maßnahmen im Kampf gegen die Pandemie?

Viel wichtiger, als mit Ausgangssperren und Lockdowns die Ansteckungsgefahr zu senken, wäre es, sich auf die Reduzierung der Sterblichkeit zu konzentrieren! Gesunden Kindern und Jugendlichen passiert nichts. Die überwiegende Mehrheit der Verstorbenen sind ältere Menschen und Patienten mit chronischen Vorerkrankungen. Aber statt mehr Ressourcen für einen besseren Schutz der Risikogruppen einzusetzen, gibt die Politik vermeintlich verantwortungslosen Jugendlichen die Schuld für die vielen Toten.

Weshalb sollte die Abflachung der Infektionskurve nicht das zentrale Ziel im Kampf gegen die Pandemie sein?

Bei den etablierten Indikatoren dreht sich die politische Debatte um die Inzidenz und Auslastung der Krankenhäuser. Auch wenn wir ein Infektionsniveau erreicht haben, das eine Rückverfolgung der Ketten unmöglich macht, wenden wir immer noch eine Menge Ressourcen dafür auf. Gleichzeitig gibt es kaum PCR-Tests für Personen, die täglich mit Risikogruppen in Kontakt stehen, beispielsweise Mitarbeiter von Pflegediensten oder im Krankentransport.

Und wie sollen Risikogruppen besser geschützt werden?

Regelmäßige Untersuchungen, die Fortsetzung von Therapien und die Prävention sind unerlässlich, um schwere Covid-Erkrankungen zu verhindern. Je besser die Gesundheit, desto geringer das Risiko. Die Erstversorgung in den Polikliniken, die vor der Pandemie schon mangelhaft war, kollabiert jetzt. Die politische Debatte fokussiert sich auf die Krankenhäuser, doch die Grundversorgung ist der Pfeiler des Gesundheitssystems!

Weshalb sind Sie gegen Maßnahmen wie Ausgangssperre und präventive Quarantäne?

Klar sinkt die Zahl der Infektionen, wenn man die ganze Gesellschaft mit Massenquarantänen lahmlegt. Aber zu welchem Preis? Quarantänemaßnahmen sind für die schwächsten Teile der Gesellschaft besonders schädlich. Während der Ebolaepidemie in Sierra Leone versorgte der Staat die unter Quarantäne stehenden Familien mit Lebensmitteln und Grundbedarfsgütern. Im spanischen Staat gab es aber selbst bei der rechtzeitigen Auszahlung von Kurzarbeiter- oder Arbeitslosengeld sehr viele Probleme. Ein großer Teil der Bevölkerung lebt auch hier in prekären Verhältnissen mit vielen Menschen unter einem Dach. Präventive Quarantäne erhöht für diese Personen das Ansteckungsrisiko. Die Lösung besteht nicht darin, alle Menschen oder nur die Alten in Heimen einzusperren. Das Virus ist gekommen, um zu bleiben. Wir können nicht warten, bis wir einen Impfstoff haben. Wir müssen Maßnahmen ergreifen, um mit dem Virus leben zu können. Wir brauchen eine wirkliche Reform des öffentlichen Gesundheitssystems!

Es gab bereits Streiks und Proteste im Gesundheitssektor. Sind die in der Pandemie legitim?

Seit 2010 wurde allein in Katalonien durch Kürzungen in Höhe von 1,5 Milliarden Euro das Gesundheitssystem enorm geschwächt. Covid-19 hat lediglich die Mängel sichtbar gemacht. Die Privatisierungen dauern an. Wann, wenn nicht jetzt, müssen wir Investitionen und politische Strategien fordern? Die Fachärzte in Ausbildung erzielten einige Verbesserungen. Der einzige Weg, um auf politischer Ebene Druck auszuüben, ist der Streik – falls nötig ein unbefristeter landesweiter Streik aller Berufsgruppen des Gesundheitssystems. Wir müssen kämpfen, um die Pandemie zu überwinden, menschenwürdige Arbeitsbedingungen zu schaffen und allen das Recht auf Gesundheit zu garantieren.

Anna Cirera ist Epidemiologin und arbeitet seit Beginn der Corona-Pandemie für das katalanische Gesundheitsamt. Zuvor baute sie vor allem Gesundheitssysteme in Ländern mit begrenzten Ressourcen auf. (Foto: Privat)

(Veröffentlicht am 19.11.2020 in Junge Welt)