Reportage: Das »weiße Gold«
Plötzlich wird das Scheppern leiser. Die Stöße, die die jungen Menschen auf den Bierbänken mal nach links oder rechts schleudern lassen, werden schwächer, und eine riesige Staubwolke steigt hinter dem Planwagen auf, als er auf die sandige Piste im Plastikmeer biegt. Der Staub steigt in Augen, Mund und Nase. Die Studierenden, die ganz hinten aufsitzen, fangen an zu husten. Fast keiner der 30 eng aneinander Gedrängten trägt hier eine Atemmaske, die allein schon gegen den Staub hilfreich wäre. Als sich die Wolke legt, stolpern die jungen Frauen und Männer kurz vor Ostern aus dem Anhänger und schauen sich verunsichert an ihrem neuen Arbeitsplatz um. Das Feld wirkt riesig. Die weißen Wogen des Plastikmeeres strecken sich dicht an dicht gen Horizont. Auf der anderen Seite sind kleine schwarze Punkte zu sehen. Eine Erntebrigade rumänischer Arbeiter, die gerade eine neue Reihe beginnt. »So, jeder nimmt sich ein Messer, ein Paar Handschuhe, einen Damm, und dann ran an den Spargel!«
Auf 200 Hektar baut Karl-Heinz Ricken im brandenburgischen Vetschau Spargel an. Von den 500 bis 600 Erntearbeitern aus Rumänien und Polen, die für ihn normalerweise das »weiße Gold« aus der Erde holen, sind dieses Jahr nur knapp 100 gekommen. In ganz Deutschland arbeiten normalerweise 300.000 Erntearbeiter – davon kommen 95 Prozent aus dem Ausland. Die Bauernverbände rangen hart mit der Regierung, um für die Saisonarbeiter Ausnahmeregelungen bei den Einreiseverboten zu schaffen. Am Ende einigte man sich darauf, ein Kontingent von einem Drittel einzufliegen, wenn Quarantäneregeln und Seuchenschutzmaßnahmen eingehalten werden. Dabei sind 80.000 Erntearbeiter für die Bauern natürlich nur ein Tropfen auf den heißen Stein. »Das reicht vorne und hinten nicht«, meint auch Ricken. Die Vorarbeiter sind meist schon vor den Grenzschließungen eingereist. Aber die Arbeiter nicht. »Am Ende hab ich hier hundert Häuptlinge, aber keinen Indianer.«
„Arbeit an frischer Luft hält gesund.“ Mit diesem Werbespruch suchen die Landwirte händeringend Erntearbeiter. Doch die Realität sieht oft anders aus (Foto: SZM)
Notgedrungen auf den Acker
Die Bauernverbände initiierten deshalb eine Werbeoffensive, um in Deutschland Erntearbeiter zu mobilisieren. Sie starteten eine Onlinekampagne, wendeten sich aber auch direkt mit Hilfegesuchen an Flüchtlingsunterkünfte sowie Universitäten. In der Lausitz fand der Aufruf vor allem an der TU Cottbus große Resonanz. Isa entschloss sich zusammen mit zwei Freunden, mit anzupacken: »Wir haben über den Mailverteiler der Uni den Aufruf bekommen, bei der Ernte zu helfen. Es gibt ja schon viele, die in der Krise alten Menschen helfen und ihnen Lebensmittel aus dem Supermarkt bringen. Aber wer bringt die Lebensmittel in die Supermärkte? Deshalb haben wir drei uns entschlossen, die Bauern hier in der Lausitz zu unterstützen.« Mit dem eigenen Auto sind sie aufs Feld gekommen.
Die meisten Studierenden, die vom Anhänger klettern, sind aus einem anderen Grund hier. Sie haben keine deutsche Staatsbürgerschaft, keinen Anspruch auf BAföG, Eltern, die sie unterstützen könnten – und durch die Coronakrise keine Arbeit mehr. Die eine wurde aufgrund des Lockdowns von ihrer Berliner Gastronomiezeitarbeitsfirma entlassen, der andere bekommt als Honorarkraft in einer Cottbuser Druckerei keine Stunden mehr. Doch neben Lebensmitteln muss irgendwo das Geld für die Semestergebühr und die Miete für das Studentenwohnheim her. Auf diese will das Studentenwerk auch in der Krise nicht verzichten.
»Die Bereitschaft der vielen jungen Leute, die voller Elan bei der Ernte anpacken, hat uns sehr aufgebaut.« Die Augen von Ricken funkeln, und ein Lächeln huscht über sein sonst sehr ernstes Gesicht. »Es ist in der Krise für uns nicht einfach, Land zu sehen. Aber die Motivation der jungen Leute war für uns wie ein Rettungsring.« Vor gut 25 Jahren ist der Rheinländer in die Lausitz gekommen. Als Jugendlicher lag er auf dem Hof seiner Eltern zwei Sommer auf dem Gurkenflieger. So werden die Erntefahrzeuge genannt, bei denen 30 Erntearbeiter, auf einer Tragfläche liegend, über das Feld »fliegen«. »Ich weiß, was ich meinen Arbeitern zumuten kann.« Als er mit seinem Familienbetrieb Mitte der 90er Gurken an Konservenfabriken im Spreewald lieferte, beschloss er, nach Ostdeutschland zu expandieren. 1996 gründete er dort sein erstes Unternehmen, das schnell wuchs. Mittlerweile baut er in Vetschau neben Gurken auch Brombeeren, Himbeeren, Erdbeeren und Spargel an. In Lieberose betreibt er im Alten Schloss eine große Gärtnerei, und auch in Beelitz hat er einen Spargelhof. In Vetschau gehört er zu den größten Unternehmern: mit 20 festen Mitarbeitern und teils mehr als 1.000 Saisonarbeitskräften. Fast alle aus Osteuropa.
Akkordarbeit zum Minimallohn
Eine gute Stunde, nachdem die Studierenden mit Stechen angefangen haben, ist die rumänische Erntebrigade am Mittelweg angekommen, der die beiden Teile des Feldes trennt. Ganz mittig befindet sich der Weg allerdings nicht. Die Reihen der Studis sind 200 Meter lang. Die der rumänischen Erntearbeiter 500 Meter. Die ersten Studierenden haben ihre Reihe abgeerntet und bringen schnaufend ihre zu einem Viertel gefüllten Körbe zum Lkw. Nachdem eine Rumänin ihren bis unter den Griff vollen Korb auf die Wage gestellt hat, dreht sich Vorarbeiter Johan mit einem strahlenden Blick zur Seite: »20 Kilo hat sie gerade gebracht. Die Deutschen nur drei, vier Kilo. Und wie der geschnitten ist! Viel zu kurz. Alles Müll.« Die Frau sieht aufmerksam über die Schulter des Vorarbeiters, ob er auch wirklich die 20 Kilogramm in das Buch einträgt, atmet dreimal tief durch und geht, sichtbar erschöpft, zurück zu ihrer Reihe.
Vier Kilo in einer Stunde. Auf dem Arbeitsvertrag der Studierenden wurde handschriftlich ergänzt, dass sie für die 9,35 Euro Mindestlohn 13 Kilo die Stunde stechen müssen. »Wer mehr sticht, bekommt mehr Geld. Gute Arbeit muss sich lohnen«, versichert Ricken nach der Vertragsunterzeichnung. Doch auch nach einer Woche schaffen die Studierenden nur acht Kilo die Stunde. Was passiert, wenn die vertraglich verankerten 13 Kilo nicht geschafft werden? Wird der Mindestlohn gezahlt, oder ist das Vertragsbruch? »Das werden wir mit Sicherheit erst Mitte Mai wissen, wenn die Abrechnung kommt«, sagt Isas Freund Mauritz nach seiner ersten Arbeitswoche.
Für die rumänischen Erntearbeiter scheinen nur die Zahlen in dem Buch der Vorarbeiter zu zählen. Wieviel es für jedes Extrakilogramm gibt, wenn der Mindestlohn an 13 Kilo geknüpft ist? Vorarbeiter Johan fährt sich über das Kinn und öffnet den Taschenrechner in seinem Handy. 9,35 durch 13 gleich 0,719 – vielleicht habe ich ihn auf dem falschen Fuß erwischt, weil er erst nachrechnen musste. In vielen landwirtschaftlichen Betrieben gibt es nach wie vor de facto einen Akkordlohn, obwohl der Mindestlohn seit 2017 auch in der Landwirtschaft gezahlt werden muss. Abzüglich der Kosten für Unterbringung, die manchmal mehrere hundert Euro betragen können. Wenn der deutsche Betrieb die Saisonarbeitskräfte über eine Agentur anheuert, wird nochmal eine Vermittlungsgebühr vom Lohn abgezogen. In den Betrieben, wo die Arbeiter ein Mittagessen bekommen, auch noch die Kosten für Verpflegung. Oft gibt es keine Lohnfortzahlungen im Krankheitsfall.
Was unterm Strich zählt, ist die Menge in Kilogramm geteilt durch den Akkordlohn von 72 Cent abzüglich der Spesen. Bei Spreewald-Bauer Ricken wird offenbar der Mindestlohn gezahlt, »auch wenn sie sich die 9,35 eigentlich nicht verdient haben«, wie er anmerkt. Sein Personal wirbt er direkt in Polen und Rumänien an, weil er die Personalvermittlungen für Gauner und Ausbeuter hält. Doch so rosig, wie er die Arbeitsbedingungen auf seinem Hof ausmalt, scheinen sie nicht zu sein. Erst letzte Woche gab es ziemliche Probleme auf seinem Hof.
Die wenigsten Studierenden halten die schwere Arbeit für nur 72 Cent pro Kilo Spargel lange aus. (Fotos: SZM)
Unter Druck
Mit Plastiktüten und Rollkoffern in den Händen lief eine Gruppe die sandige Zufahrtsstraße zum Hof von Ricken hinunter. Sie wollten weg, nur noch weg von hier. Ihnen war etwas anderes versprochen worden. Der Bauer versuchte sie, mit Hilfe der Polizei am Verlassen des Hofes zu hindern. Sie stünden noch unter Quarantäne und dürften nur zum Arbeiten auf die Felder, nicht auf die Straße. Das Berliner Beratungszentrum für Migration und Gute Arbeit (Bema) half den 15 aus Rumänien eingeflogenen Erntearbeitern, aus der Falle zu kommen. Laut Bema sollten den Arbeitern, die angaben, über die von den Behörden angeordnete zweiwöchige Quarantäne nicht informiert worden zu sein, die Flugkosten in Höhe von 300 Euro abgezogen werden.
Klagen über schlechte Behandlung, Beleidigungen und selbst physische Gewalt durch die Vorgesetzten weist Ricken zurück. Auch um die Verpflegung der unter Quarantäne stehenden Arbeiter habe sich der Betrieb gekümmert, versicherte der Inhaber gegenüber dem RBB. Doch ob es dafür im nachhinein Lohnabzüge gibt, darauf haben die Rumänen wohl genausowenig eine Antwort bekommen wie auf die Frage, wann sie wieder in die Heimat dürften. Derzeit bemüht sich das Brandenburger Landwirtschaftsministerium, eine neue Stelle für die 15 Arbeiter zu finden.
»Mach doch nicht so große Löcher! Du machst den ganzen Damm kaputt. Wir ernten hier Spargel und graben nicht nach Kohle!« Gernot, der stellvertretende Chef von Ricken, schreibt die ersten Studierenden ab. »Bei der Leistung brauchst du morgen gar nicht mehr wiederkommen.« Er blickt besorgt auf das Nachbarfeld, wo der Spargel auch schon durchsticht. Acht Zentimeter wächst das Gemüse am Tag. Mit viel Zeit kann man dem Wachsen zuschauen. Doch gerade läuft die Uhr gegen Gernot. Dabei versucht er nicht einmal zu gewinnen, sondern nur das Schlimmste zu verhindern. Er muss mit der Not an Arbeitskräften und deren Belastungsgrenzen ringen.
»Corona« scheint weit weg
Bei den Studierenden ist die Grenze nach vier Stunden Stechen erreicht. Um ein Uhr kriechen sie auf dem Zahnfleisch. 45 Minuten Frühstücks- und Mittagspause inklusive. Vor der Mittagssonne flüchten sie in den benachbarten Wald, holen ihre Brotdosen und Wasserflaschen raus. Die ersten klagen über Rückenschmerzen. Ein rumänischer Vorarbeiter der Studibrigade beschwert sich bei Gernot. »Ich spreche kein Englisch, kann nicht mit ihnen sprechen. Und den Akkord schaffen die nie! Ich gehe lieber nach Hause, als mir diesen Stress zu geben.«
Die ersten sagen Gernot, dass sie jetzt zurück nach Cottbus fahren müssten. Die einen, weil sie am Nachmittag Onlinevorlesungen haben, die anderen, weil ihnen die Schinderei den Lohn nicht Wert ist. Nach der Mittagspause wird ohne Stopp weitergearbeitet. Das Wasser geht aus. Für die rund 80 Arbeiter der zwei Brigaden gibt es ein Waschbecken im Dixi-Klo, aber keinen Wassertank. Seife und Desinfektionsmittel noch viel weniger. Als die meisten Mitglieder der Studibrigade fast umkippen, fährt Gernot in seinem goldenen Pick-up Wasser holen. Die Flaschen werden herumgereicht. Auch in Zeiten von »Corona« wird bei der Ernte nicht nur dieselbe Bierbank auf dem Planwagen, sondern auch dieselbe Wasserflasche geteilt.
Mittlerweile sei die Lage besser, versichert Ricken. Sie hätten Desinfektionsmittel für die Unterkünfte gekauft und sogar Flüssigseife, was eigentlich nicht in der Verantwortung des Betriebes stehe. Und man sei sehr achtsam, dass die Hygieneregeln von den Arbeitern eingehalten würden. Für das Händewaschen gibt es eine einfache Regel: »Zweimal Happy Birthday singen oder ein Ave Maria und ein Gelobt seist du Gott«, erzählt Ricken unter dem Kreuz im Speisesaal. Dies alles sei mit erheblichen Mehrkosten verbunden. Doch die Händler drückten die Spargelpreise immer weiter. »Wie die Leute hier im Osten sagen: Das ist die hässliche Fratze des Raubtierkapitalismus.« Er hingegen schaffe hier etwas mit seinem eigentümergeführten Betrieb. Ihm gehe es um die Lausitz und nicht nur um immer mehr Profite. »Wir unterstützen hier unter anderem einen Kampfsportverein, der uns zu Ehren eine Gurke als Symbol hat.
Um 17.30 Uhr fehlen der Studibrigade noch 20 Meter ihres 200 Meter langen Feldes. Die rumänischen Vorarbeiter schauen wie Gernot zuvor auf das noch unberührte Nachbarfeld und sagen zueinander: »Drei Stunden ist noch Licht. Wenn wir hier fertig sind, stechen wir noch das Nachbarfeld.« Als diese Info die Runde in der Brigade macht, lassen viele Studierende ihre Messer fallen und laufen zu Fuß die 20 Minuten bis zum Bahnhof Vetschau. Die rumänische Brigade arbeitet offiziell noch bis 19 Uhr weiter. Dann sind abzüglich der 30 Minuten Mittagspause die zwölf Stunden vorbei. Ohne Überstunden kommen sie bei einer Sechstagewoche auf 72 Wochenstunden.
(Veröffentlicht am 2.5.2020 in Junge Welt)