Die Zeit läuft
Gestern beklatscht, heute vergessen: Der Frust unter Krankenhausbeschäftigten ist groß und trieb am Mittwoch, dem »Tag der Pflege«, hierzulande viele Beschäftigte auf die Straße. Die größte Kundgebung fand in Berlin vor dem Roten Rathaus statt. »Die Zeit des Meckerns ist vorbei«, sagte Krankenpfleger Thomas Pottgießer im jW-Gespräch. »Jetzt stellen wir mit der ›Berliner Krankenhausbewegung‹ dem Senat ein Ultimatum von 100 Tagen.« 100 Tage, in denen die Beschäftigten einen Abschluss von zwei Tarifverträgen fordern: für die Pflege einen Tarifvertrag Personalbemessung und eine Bezahlung nach dem Tarifvertrag öffentlicher Dienst (TVöD) für alle Krankenhausbeschäftigten.
In den nuller Jahren hatte der »rot-rote« Senat alle nichtpatientennahen Dienstleistungen in den kommunalen Krankenhäusern ausgegliedert. Es entstanden viele gutbezahlte Chefposten, während neue Beschäftigte ohne Tarifvertrag eingestellt wurden. Also: Tarifflucht im öffentlichen Dienst. Eine Krankenhausbelegschaft wurde in ein paar Dutzend Firmen zergliedert. Ein gemeinsamer Kampf aller Beschäftigten wurde so verhindert, da nach deutschem Recht nur jede Belegschaft mit ihren direkten Chefs einen Tarifvertrag aushandeln darf. Dass jetzt fast alle Tochtergesellschaften der hiesigen Klinikkonzerne eine Tarifkommission haben und nun gemeinsam kämpfen können, ist im Vergleich zu den Vorjahren ein gewaltiger Fortschritt.
Den TVöD für alle Krankenhausbeschäftigten möchte die »Berliner Krankenhausbewegung« zusammen mit einem verbindlichen Pflegeschlüssel durchsetzen. In diesem Tarifvertrag für Pflegekräfte von Charité und Vivantes soll festgelegt werden, wieviel Personal jede Station braucht. Arbeiten in einer Schicht weniger Kollegen als vorgeschrieben, sollen diese über ein Punktekontosystem zusätzliche Urlaubstage bekommen. An der Charité gibt es zwar seit 2016 einen Tarifvertrag Personalbemessung, doch durch fehlende Sanktionsmöglichkeiten hält sich die Unternehmerseite nicht an den Schlüssel.
Immer wieder wird auf der Kundgebung betont, dass Beschäftigte der Töchter und aus der Pflege gemeinsam die zwei Tarifverträge durchsetzen wollen. »Wenn in den 100 Tagen nichts passiert, werden wir zusammen in den Erzwingungsstreik gehen«, betonte Benjamin Elsner gegenüber jW. Er arbeitet in der ambulanten Reha bei einer Vivantes-Tochter. Mit seinen Kollegen trat er am Mittwoch in den Warnstreik.
Dass politisch Verantwortliche versuchen werden, Kollegen bei den Tochtergesellschaften und im Pflegebereich zu spalten, wurde am Mittwoch in den Reden von Regierungsvertretern deutlich. Berlins Gesundheitssenatorin Dilek Kalayci (SPD) ging erst auf Nachfrage auf die Forderungen der »Berliner Krankenhausbewegung« ein. Ein Tarifvertrag Personalbemessung sei theoretisch machbar, die eigentliche Verantwortung liege jedoch beim Bund. Und was ist mit TVöD für alle? Es sei zwar auf jeden Fall die Zielsetzung, aber »am Ende hat das auch immer mit den Landesmitteln zu tun. Hier müssen wir sehen, dass der wirtschaftliche Rahmen die Mittel auch hergibt.« Passend, dass Finanzsenator Matthias Kollatz (SPD) jüngst Kürzungen bei städtischen Personalausgaben ankündigte.
»Der erste Streik für einen Entlastungstarifvertrag war zusammen mit Kollegen der Charité-Tochter CFM«, erinnert sich Krankenpfleger Pottgießer. Das war 2011. »Den Pflegekräften wurden seitens des Unternehmens ein paar Zugeständnisse gemacht und der Streik beendet, so dass die Kollegen der CFM erst mal allein im Regen standen.« Solch eine Spaltung müsse künftig ausgeschlossen werden. Gebannt ist eine Wiederholungsgefahr indes nicht. Denn zwei Tarifkommissionen würden getrennt verhandeln und über etwaige Ergebnisse gleichfalls getrennt abstimmen, weiß Pottgießer.