Interview: »Dieser pure Hass ist unerträglich«
Angesichts der Diagnose, ein Kind mit schwerer Behinderung zu bekommen, haben Sie vor kurzem in der 25. Woche einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen lassen. Wie geht es Ihnen jetzt?
Seltsam. Aljoscha war ja ein Wunschkind. Ich hatte schon mein ganzes Leben umgestellt, und jetzt stehe ich hier, und irgendwie fühlt sich alles an wie vor einem Jahr. Aber es ist nichts so, wie es war – eine surreale Situation.
Wie ist es zu dem Abbruch gekommen?
Da ich selbst eine Behinderung habe, wurde ich zur Pränataldiagnostik geschickt. Ich bin da eigentlich sehr ruhig rangegangen, weil es bis dahin keine Auffälligkeiten in der Schwangerschaft gab. Die meisten Frauen sind nach zehn Minuten wieder draußen. Aber als das bei mir so lange gedauert hat, war eigentlich schon klar, dass da irgendwas nicht stimmt. Und dann kam die Diagnose. Wir waren erst mal total baff. Die Alternative zu einer OP mit ungewissem Ausgang und der sehr hohen Wahrscheinlichkeit von schweren Folgebeeinträchtigungen war, das Baby palliativ zu bekommen, es also medizinisch begleitet sterben zu lassen oder einen Spätabbruch zu machen.
Wie ist die Informationslage zu so einer Entscheidung?
Zum Leben mit einem behinderten Kind haben wir viel gefunden. Aber zum Thema Abbruch sind die Informationen spärlich. Es gibt medizinische Aufklärung, aber wir konnten nur zwei Erfahrungsberichte finden. Und das waren Fälle, wo das Kind null Überlebenschancen gehabt hätte. Selbst diese Frauen wurden in den Foren angegriffen, warum sie ihr Kind nicht nach der Geburt haben sterben lassen. Es ist echt krass, wie aggressiv und verletzend da die ganzen ›Pro-Life-Aktivistinnen‹ in den Debatten intervenieren. Am heftigsten finde ich Menschen, die nie in dieser Situation waren, aber am lautesten ›Mörderin‹ schreien, oder den Spruch: ›Wenn du nicht bereit bist, dich um dein Kind zu kümmern, dann bekomme keins‹. Bei Frauen, die selber eine Totgeburt hatten und wütend denken, ›mir wurde die Chance genommen, und du wirfst sie weg‹, okay. Da kann ich die Wut nachvollziehen, auch wenn ich sie falsch kanalisiert finde. Aber dieser pure Hass ist unerträglich. Ich hätte vorher nicht gedacht, dass diese Spinner es schaffen, mein moralisches Dilemma so zu verstärken.
Worin besteht dieses Dilemma?
Spätabbrüchen gehen in der Regel Wunschschwangerschaften voraus. Die Entscheidung ist keine einfache. Den berühmten Satz: ›Es gibt kein richtig und kein falsch‹, habe ich vorher immer interpretiert als ›du triffst die Entscheidung, die für dich richtig ist‹. Aber nein, es heißt, dass es immer einen Aspekt gibt, der die Entscheidung richtig macht, und immer einen, der sie falsch macht. Zum ersten Mal habe ich wirklich begriffen, was ein moralisches Dilemma ist.
Von konservativer Seite wird ja immer wieder angeführt, dass eine Beschränkung notwendig ist, damit Frauen nicht leichtfertig abbrechen …
Abtreibungen sind kein Vergnügen, sondern für die Frauen, die es machen, eine Notwendigkeit. Wenn der Zugang zu sicheren Abtreibungen in solchen Situationen verwehrt wird, geht es halt ins Ausland. Oder wenn die Frauen sich das nicht leisten können, geht der Griff wieder zum Kleiderbügel. Wir brauchen eine komplette Entkriminalisierung von selbstbestimmten Abtreibungen. Aber es gibt ja hier noch nicht mal Informationsfreiheit zum Thema. Deswegen regt mich der Paragraph 219 a auch auf – das ist keine Werbung, das ist grundlegender Zugang zu medizinischer Versorgung. Wir brauchen auch ein besseres Gesundheitssystem, höhere Löhne und eine Kollektivierung der Carearbeit. Nur so kann erreicht werden, dass sich mehr Frauen in schwierigen Situationen für das Kind entscheiden.
Warum haben Sie sich dagegen entschieden?
Hätte ich selbst keine Behinderung und wäre Millionärin, natürlich hätte ich das Kind bekommen. Aber in der Sozialarbeit verdienen wir beide nicht viel. Wenn eine Person das Kind pflegt und die andere 40 Wochenstunden arbeitet, kommen wir mit Kindergeld und 300 Euro Pflegegeld auf 2.800 Euro im Monat. Mit meiner Behinderung kann ich auch kein sechsjähriges Kind ständig tragen. Können wir es aushalten, unserem Kind beim Sterben zuzusehen und unser Leben nur noch auf unseren Sohn zu fokussieren? Und was ist, wenn meinem Partner etwas passiert oder wir uns trennen? Hier fehlt auch ganz klar gesellschaftliche Anerkennung und Unterstützung. Der Pflegenotstand ist noch mal ein anderes Thema. Aber ja, es war eine sehr schwierige Entscheidung.
Haben Sie in diesem Prozess auch professionelle Unterstützung bekommen?
Uns hat die Beratung durch eine Psychologin gutgetan. Für Spätabbrüche gibt es zum Glück nicht diese Pflichtberatung, die gesetzlich den ›Schutz des ungeborenen Lebens‹ in den Mittelpunkt stellt. Auch andere Ärzte haben uns super beraten und betreut.
Wie lange hat es dann noch bis zum Abbruch gedauert?
Wegen Feiertagen und Corona eine gefühlte Ewigkeit. Ich wollte das einfach nur hinter mich bringen und dachte, gesetzlich vorgeschrieben sind drei Tage zwischen Indikation und Abbruch. Warum sind es bei mir drei Wochen? Aber im nachhinein war diese Zeit Gold wert. So konnte sich meine Entscheidung richtig festigen, und ich hatte Zeit, um langsam Abschied zu nehmen.
Wie ist der Eingriff verlaufen?
Ab der 24. Woche haben Frühgeburten eine Überlebenschance. Deshalb wurde vor der medikamentösen Einleitung der Geburt ein Fetozid gemacht. Sprich, der Fötus wird mit einer Kaliumchloridspritze getötet. Der Moment vor diesem Eingriff war das Schlimmste von allem. Du sitzt da in einem Behandlungszimmer und wartest darauf, dass du jetzt dein Baby umbringen lässt, während du im Bauch noch seine Bewegungen spürst. Ich bin total abgedreht.
Und danach?
Es war sehr komisch, als sich der Kleine nicht mehr bewegte. Aber irgendwie auch erleichternd, dass ich das endlich hinter mir hatte. Ich dachte mir, noch mal einen Tag Tabletten nehmen, dann ist die Geburt durch, und ich bin wieder zu Hause. Aber dann lag ich da zwei Tage, und nichts ist passiert. Da bin ich echt durchgedreht!
Bei einem Spätabbruch gibt es eine ganz normale Geburt?
Ich habe auch erst geschluckt. Warum kein Kaiserschnitt, warum machen sie es nicht einfach mit einer OP weg? Aber das ist kein leichter Eingriff. Und auch für den Verarbeitungsprozess war es wichtig, meinen Sohn nach der Geburt in den Arm nehmen zu können.
Wie war das?
Egal, ob unfertiges oder totes Baby, du denkst einfach nur: Mein Gott, ist das süß! Die kurze gemeinsame Zeit war sehr wertvoll.
Gab es eine Beisetzung?
Unser Motto war, wenn sich einer von uns beiden unsicher ist, machen wir es lieber. Im Zweifelsfall hast du dann eine Beerdigung, die du als ein bisschen unnötig empfindest, aber das ist immer noch besser, als wenn du in zehn Jahren einen Ort zum Trauern brauchst und keinen hast. Deshalb haben wir ihn in einem Waldfriedhof beigesetzt.
Lara S. hat sich nach der Diagnose, dass ihr ungeborenes Kind schwere Behinderungen aufweist, für einen Abbruch der Schwangerschaft entschieden. Sie wünschte, anonym zu bleiben
Dieses Interview erschien zuerst in der Jungen Welt