„Wir organisieren uns in 10 Minuten“
Lieferdienste — Wie es die Fahrradkuriere des Lieferdienstes Gorillas geschafft haben, bundesweit Schlagzeilen zu machen und sich gewerkschaftlich zu organisieren
Für das Frühstück am Samstagmorgen die Eier vergessen? Oder einfach zu faul, für ein Feierabendbier noch mal zum Späti zu gehen? Die derzeit wie Pilze aus dem Boden schießenden Onlinelieferdienste wie Gorillas, Flink, Flaschenpost oder Getir, die versprechen, nach Bestellung über die Unternehmens-App in 10 Minuten zu liefern, hoffen, ein neues Geschäftsmodell zu etablieren. „Gorillas existiert, um dir sofortigen Zugang zu deinen Bedürfnissen zu ermöglichen“, schreibt Gründer Kağan Sümer im Manifest seines Unternehmens. Gerade wenn es draußen regnet, stürmt oder schneit, bevorzugen es immer mehr Kund*innen des Startups, sich ihren Einkauf von Fahrradkurieren direkt an die Tür bringen zu lassen. Die Bedürfnisse der Beschäftigten bleiben dabei jedoch oft auf der Strecke.
Die Winterwochenenden sind für Jakob Pomeranzev besonders hart. Er arbeitet seit Anfang des Jahres als „Rider“ bei Gorillas. „Bei Minusgraden am Wochenende pausenlos eine Bestellung nach der anderen auszufahren, ist eine unglaubliche Kombination“, sagt Jakob. Die mit einem Stoppelbart bewachsenen Gesichtszüge des 28 Jahre jungen Mannes sind hart. Seine ernsten, aber ruhigen Augen hinter der Fliegerbrille mit dünnen Goldrahmen blicken nachdenklich in die Ferne. Er hat schon einiges gesehen in seinem Leben. Als Kind flüchtete er mit seinen Eltern vor der kollabierenden Wirtschaft im postsowjetischen Russland nach Kanada. Mit 19 wurde er als „Rädelsführer“ bei Protesten gegen eine Erhöhung der Studiengebühren in Ottawa inhaftiert.
Anschließend führte ihn sein Weg über einen mehrjährigen Zwischenstopp in der Türkei nach Deutschland. Auf der Suche nach einer sozialversicherungspflichtigen Arbeit, die ihn nach einem knappen Jahr Pandemie auch endlich wieder raus aus der Zelle seiner vier Wände bringt, beginnt er, Frühstückseier und Feierabendbierchen für Gorillas auszufahren. Wie fast die gesamte Belegschaft bei Gorillas hat auch Jakob keine deutsche Staatsbürgerschaft. Anfang Februar 2021 nimmt er die Arbeit auf. Und gerät bereits nach wenigen Tagen in den ersten Streik des Startups.
„Lauft doch“
In der ersten Februarwoche wütet ein Schneesturm wie seit Jahren nicht mehr über Deutschland. Auch Berlin ist mit einer dicken Schneedecke überzogen. Trotz rutschiger Straßen und vereisten Wegen setzt Gorillas sein Geschäft fort, als sei nichts passiert. Ein Kollege von Jakob erzählt, wie sein Chef auf die Beschwerden der Rider reagiert hat: „Wenn ihr nicht fahren wollt, dann lauft doch.“ Als die Beschäftigten keinen Kompromiss mit dem Management finden, nehmen sie ihre Geschicke selbst in die Hand und legen am 8. und 9. Februar in drei Warenlagern die Arbeit nieder. Der Streik zeigt Wirkung: Gorillas stellt für den Rest der Woche das Geschäft in Berlin ein.
Der spontane Streik richtet sich aber nicht nur gegen die Arbeitsbedingungen bei extremem Wetter: Die Rider bemängeln auch, dass sie nach all den Wintermonaten immer noch keine adäquate Arbeitskleidung für die Temperaturen gestellt bekommen. „Der Streik hat eine kleine Gruppe an Arbeiter*innen zusammengebracht, die die Bedingungen bei Gorillas verbessern wollten“, erinnert sich Jakob heute. Anfangs sei es sehr schwierig gewesen. Aus Angst entlassen zu werden, bevor sie etwas ändern könnten, hätten sie sich nur im Geheimen getroffen.
Neben einem Austausch über die Probleme in den verschiedenen Lagern der Stadt beginnen sie zügig, die Wahl eines Betriebsrates vorzubereiten. Doch die Arbeit des Kollektivs, sie nennen sich „Gorillas Worker Collective“, richtet sich nicht nur nach innen, sondern von Beginn an auch nach außen: Im Februar beginnen sie auch, auf dem Kurznachrichtendienst Twitter die Arbeitsbedingungen beim App-Unternehmen anzuklagen.
Löhne kommen immer zu spät
„Warum expandiert Gorillas in immer weitere Städte und Länder, wenn sie es noch nicht einmal schaffen, den Laden hier zum Laufen zu bekommen?“, fragt Jakob. Er hat wenig Verständnis für die Unfähigkeit des Managements. Löhne würden chronisch zu spät überwiesen. Krankheits- und Urlaubstage oft unterschlagen. Und es fehle auch immer wieder an Arbeitsmitteln. Die Fahrräder, die Gorillas von anderen Unternehmen mietet, seien häufig von minderwertiger Qualität. Ein Smartphone, das die Rider für die Arbeit brauchen, bekommen sie nicht gestellt. Im Winter gibt es keine warmen Jacken und Handschuhe, im Sommer keine Regenkleidung und in vielen Warenhäuser keine Waagen, um das Gewicht der Lieferungen zu kontrollieren. Eigentlich darf der Rucksack nicht mehr als zehn Kilo wiegen. „Tatsächlich müssen wir oft mehr tragen“, sagt Jakob.
Zudem sind in vielen Warenhäusern die Gepäckkörbe der Fahrräder abmontiert. Damit das Bier auf dem Berliner Kopfsteinpflaster nicht durchgeschüttelt wird. „Unsere Rücken sind für Gorillas nur billige Stoßdämpfer“, sagt Jakob. Er klingt verärgert. Zudem: Trotz der schweißtreibenden Arbeit gibt es keine Duschen. Und da es kein Wasser in der Personalküche gibt, müssen Jacob und seine Kolleg*innen das Geschirr auf der Toilette waschen. Sie kritisieren auch den Stundenlohn von lediglich 10,50 Euro, die Befristungen und Urlaubsregelungen.
Jakob ist einer der drei Beschäftigten, die die Einladung zur Wahlversammlung für die Betriebsratswahlen unterschreiben. „Es war nicht einfach für uns, die ganzen deutschen Gesetzestexte zu verstehen. Bei dem kleinsten Fehler kann die Wahl angefochten oder der Betriebsrat abgesetzt werden.“ Am Tag nach der Betriebsversammlung zur Wahl des Wahlausschusses sieht es auch so aus, als ob Gorillas juristische Mittel einlegen würde, um den Prozess zu stoppen. Jakob erzählt, dass sie erst am Abend vor der Versammlung von der Geschäftsführung eine aktuelle Mitarbeiterliste bekommen hätten.
Wer von der Liste ein leitender Angestellter ist, der die Macht hat Mitarbeiter*innen zu entlassen, ist daraus nicht erkenntlich. Deshalb beschließen Jakob und seine Mitstreiter*innen, alle Beschäftigten, die den Titel „Manager“ tragen, von der Versammlung auszuschließen. Besonders entrüstet darüber ist ausgerechnet jene Managerin für „Spezielle Aufgaben“, die für die Geschäftsführung mit Jakob über die Durchführung der Wahlversammlung verhandelt hat. „Ich bin auch eine Gorillas-Arbeiterin“, ruft sie vor den Toren des Versammlungsortes. Nach Aussagen von Beschäftigten sei sie gleich mit einem ganzen Bus voll mit Managern aus der Firmenzentrale angereist. Am Tag nach der Wahlversammlung versichert die Pressestelle von Gorillas, dass juristische Schritte geprüft würden. Doch in den folgenden Tagen überschlagen sich dann die Ereignisse.
Barrikade und Menschenkette
Am 9. Juni sind vor dem Eingang des Warenhauses in Berlin Mitte dutzende Fahrräder zu einer Barrikade aufgetürmt. Davor steht eine solide Menschenkette von Ridern. Jakob mittendrin. Immer wieder schallt eine Parole durch die Luft: „We want Santiago back“ – wir wollen Santiago zurück. Der argentinische Kollege, der sich am ersten Streik im Februar beteiligt hatte, ist wenige Stunden zuvor fristlos entlassen worden. Weil er am Morgen zu spät zur Arbeit erschienen sei. Nie zuvor hätte er eine Abmahnung bekommen, beteuert Santiago. Und dass er später komme, sei mit seinem Vorarbeiter abgesprochen gewesen. Der stellvertretende Deutschlandmanager von Gorillas fleht die gerufene Polizei an: „Bitte, räumen Sie die Menschen vor der Tür unseres Lagers.“
Santiagos Kolleg*innen lassen sich von der Polizei nicht einschüchtern und lassen die Arbeit weiter ruhen. Als sie davon erfahren, dass im Firmensitz Bürobeschäftigte gesucht werden, die bereit sind, als Streikbrecher zu arbeiten, gehen sie einen Schritt weiter und legen das Lager mit einer Blockade lahm. Das Unternehmen entscheidet, vor versammelter Presse, die Streikposten nicht mit Polizeigewalt auflösen zu lassen. Es verzichtet auch darauf, vor Gericht gegen den in Deutschland illegalen „wilden Streik“ vorzugehen. Verhindern kann Gorillas trotzdem nicht, dass der kleine Arbeitskampf über Nacht zu einem Thema der bundesweiten Berichterstattung wird.
Die Beschäftigten fordern fundamentale Dinge wie Schutzkleidung und pünktliche Lohnzahlungen. In einem von niedrigen Löhnen gekennzeichneten Bereich, der gewerkschaftlich lange als nicht organisierbar galt. Und das mit einem Streik, der ohne Aufruf einer Gewerkschaft geführt wird, was in der Bundesrepublik als illegal gilt.
„Wir brauchen eine Debatte über ein erweitertes Streikrecht für die lohnabhängig Beschäftigen“, findet auch ver.di-Sekretär Orhan Akman, der in der ver.di-Bundesverwaltung für den Handel zuständig ist. „Dazu gehört auch eine Diskussion über das politische Streikrecht.“ Der Streik bei Gorillas hatte immer wieder politische Elemente. Nach der Entlassung von Santiago forderten die Streikenden eine Abschaffung der Befristungen und der Probezeit. Aber auch aufenthaltsrechtliche Beschränkungen des Arbeitsrechtes spielen immer wieder eine Rolle. Viele Rider müssen sich nach einem halben Jahr Arbeit bei Gorillas aufgrund von Visabestimmungen eine Sondergenehmigung bei der Ausländerbehörde holen, um weiter für das Unternehmen tätig sein zu können. „Doch statt die Beschäftigten zu unterstützen, werden Kollegen regelmäßig auf die Straße gesetzt, bevor über ihren Antrag bei der Ausländerbehörde entschieden wird“, sagt Jakob. Und das auch, obwohl die Arbeitserlaubnis bis zum Entscheid vorläufig verlängert wird.
Klage gegen Befristungen
Die Angst, von einem auf den anderen Tag auf der Straße landen zu können, wird oft als Argument angeführt, warum es in den Niedriglohn-Branchen so schwierig ist, gewerkschaftliche Strukturen aufzubauen. Umso mehr, wenn die Beschäftigten aufgrund ihres Aufenthaltsstatus‘ keinen Anspruch auf Grundsicherung haben. Eine hohe Befristungsquote macht es den Arbeitgebern einfach, unliebsame Kollegen loszuwerden: Sie verlängern einfach den Arbeitsvertrag nicht.
Jakob hat keine Angst, aufgrund seines gewerkschaftlichen Engagements entlassen zu werden: „So einen beschissenen Job wie bei Gorillas finde ich schnell wieder.“ Derzeit klagt er auch mit anderen Kollegen vor dem Arbeitsgericht gegen die Befristungen. Aufgrund eines Formfehlers in den Verträgen könnten alle bisher eingestellten Beschäftigten entfristet werden. Der Druck, den sie auf den Arbeitgeber aufbauen konnten, hat auch dazu geführt, dass es bisher wenig Behinderungen der aktiven Beschäftigten seitens Gorillas gibt.
„Die Beschäftigten brauchen einen demokratisch gewählten Betriebsrat, damit wir Themen wie Gestaltung der Arbeitszeit, Pausen und Pausenräume, Genehmigung von Mehrarbeit, Einhaltung von Gesundheitsschutzregelungen und Arbeitsplatzgestaltung regeln können“, erklärt Orhan Akman. Seit Anfang Juni unterstützt ver.di die Kolleg*innen bei Gorillas mit logistischer Hilfe und Rechtsberatung. Vor allem mit dem Wahlvorstand, der die Betriebsratswahlen vorbereitet, stünden sie gerade im engen Austausch, sagt Akman. „Aber wir brauchen auch einen Tarifvertrag, der bessere Löhne, kürzere Arbeitszeiten, Urlaubs- und Weihnachtsgeld, Zuschläge und vieles mehr festlegt.“
Wie es langfristig bei Gorillas weitergeht, ist Jakob und seinen Kolleg*innen noch nicht ganz klar. Ein wichtiger Schritt war die Streikversammlung am 5. Juli, auf der die Beschäftigten über einen Forderungskatalog diskutierten und abstimmten. Für Jakob ist der basisdemokratische Ansatz einer der wichtigsten Gründe, warum sie es binnen kurzer Zeit geschafft haben, viele Kolleg*innen zu erreichen. „Auch wenn kollektive Entscheidungsprozesse manchmal schwierig sein können: Sie aktivieren die Belegschaft. Wir können alle unsere unterschiedlichen Erfahrungen einbringen. Und unser Schicksal in die eigenen Hände nehmen.“
Jakob ist inzwischen ver.di-Mitglied. Er freut sich, dass der Kampf bei Gorillas von einer großen Gewerkschaft unterstützt wird, wünscht sich aber, dass ver.di eine aktivere Rolle einnimmt. Sehr wichtig ist ihm, dass die erfolgreiche basisgewerkschaftliche Organisationsform erhalten bleibt.
Am Ende zählt nur ein Tarifvertrag
Orhan Akman bremst tatsächlich etwas bei der Euphorie über die Selbstorganisation. „In anderen Ländern gibt es andere Traditionen der Arbeiterbewegung. Aber das hat oft mit unserer Realität in Deutschland, mit unserer Kultur, mit unserer Geschichte der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung wenig gemeinsam.“ Am Ende zähle eine rechtssichere Regelung, die die Arbeitsbedingungen verbessert. Ein Tarifvertrag. Um den zu erkämpfen, müssten sich die Beschäftigten in einer Tarifgewerkschaft zusammenschließen. „Deswegen ist die beste Selbstorganisation der Beschäftigten in Unternehmen wie Gorillas & Co. die Tarifgewerkschaft ver.di“, sagt Akman.
Wie die Gorillas ihren Kampf weiterführen, was sie von ihren Methoden bewahren und was sie verändern wollen, ist noch offen. Derzeit konzentrieren sie sich vor allem darauf, die anstehenden Betriebsratswahlen erfolgreich durchzuführen. Jakob ist sich sicher, dass dies allein nicht ausreichen wird. Über den Kampf nachdenkend fährt er weiter Einkäufe durch die spätsommerlichen Straßen: einen Labello, Zwiebeln, Pudding und Pfirsiche. Eine Flasche Sekt, Schokolade und Kondome.
Diese Reportage erschein in dem ver.di Mitgliedermagazin Publik