Aufstand gegen das Erbe einer Diktatur


Aufstand gegen das Erbe
einer Diktatur

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„Unter unseren Füßen liegt eines der größten Kupfer und Lithiumvorkommen der Welt. Unsere Stadt müsste wie Dubai aussehen.“ Der Taxifahrer schlängelt sich geschickt an den Schlaglöchern der holprigen Piste in der nordchilenischen Stadt Antofagasta vorbei. „Bildung, Renten, Gesundheit, Wasser: Alles ist privat. Alles ist teuer. Aber die Löhne sind eine Misere. Der Reichtum unseres Bodens wird außer Landes gebracht, und für uns gibt es nur Verschmutzung und Armut.“
Am 18. Oktober 2019 explodierte die über Jahre angestaute Wut der Bevölkerung. Das erste Mal seit dem Ende der Diktatur im Jahre 1990 schickte die Regierung das Militär gegen die eigene Bevölkerung auf die Straße. Gegen Schülerinnen und Schüler, die sich in der Hauptstadt gegen eine Erhöhung der Ticketpreise im öffentlichen Nahverkehr wehrten. Doch anstatt die Proteste zu unterdrücken, fachte die Militarisierung die Wut der Massen erst richtig an. Binnen weniger Stunden weiteten sich die Unruhen zu einem landesweiten Aufstand aus.
Die Wut richtet sich gegen das Erbe der Diktatur: gegen das neoliberale Wirtschaftssystem, welches fest in der von den Militärs geschriebenen Verfassung verankert ist. Und eine Gesellschaft, in der die mächtigen Familien von damals nach wie vor die Zügel in der Hand halten.

Ob die Proteste es schaffen, mit dem Erbe der Diktatur zu brechen, wird vor allem in der trockensten Wüste der Welt entschieden werden. Im Norden des Landes hat sich eine große Vernetzung von verschiedenen Gewerkschaften, Schüler- und Studierendenverbänden, Nachbarschaften und zivilgesellschaftlichen Organisationen gebildet. Hier, wo der Reichtum Chiles unter den Steinen schlummert.
„Um die Situation zu ändern, müssen wir die Geldbeutel der Reichen angreifen“, meint Patrica Romo, Präsidentin der Lehrergewerkschaft.
Es ist ein Stein ins Rollen gekommen, der sich nur noch schwer aufhalten lassen wird.

Slide Traditionell wird in der nordchilenischen Provinz Antofagasta das alte Jahr mit dem Verbrennen von Puppen verabschiedet. „Seit den 80er-Jahren verbrennen wir symbolisch das Schlechte des alten Jahres. In unserer Nachbarschaft haben wir den Präsidenten und seinen Cousin, den Innenminister Chadwick, gewählt, mit allem, was er repräsentiert“, erklärt Mauricio Pizarro. „Das ist die Rache des Volkes! Auf ein 2020 ohne Piñera und sein korruptes Regime!“ Obwohl durch die Proteste nur noch 6 Prozent der Bevölkerung die Regierung unterstützen, ist der Präsident, dessen Privatvermögen Forbes auf 2,8 Milliarden US-Dollar schätzt, weiterhin an der Macht des südamerikanischen Staates. „In unserer Provinz wird der Reichtum Chiles produziert. Aber das Geld geht nach Santiago oder ins Ausland,“ unterbricht Don Lucho Roja wütend. „Für uns gibt es nur Misere und Repression.“

Slide Die chilenische Wirtschaft stützt sich auf den Export von Kupfer, das in der Region Antofagasta abgebaut wird. Jährlich wird Metall und Erz im Wert von 38,4 Milliarden US-Dollar exportiert. Doch nur ein Bruchteil der Gewinne kommt der Bevölkerung zu Gute. Unter der Pinochet-Diktatur brachte José Piñera, der Bruder des aktuellen Präsident, ein Gesetz zur Privatisierung des Kupfers auf den Weg, mit dem in den Folgejahren auch die staatliche Telekommunikation, Elektrizität, die Häfen und Flughäfen, Autobahnen und Gefängnisse privatisiert wurden. Die Forderung einer Wiederverstaatlichung der Rohstoffe, um ein staatliches Gesundheits-, Renten- und Bildungssystem finanzieren zu können, ist heute so populär wie seit den Verstaatlichungen unter Salvador Allende nicht mehr. Slide New Layer New Layer José Piñera legte auch den Grundstein für das aktuelle Arbeitsrecht. Nachdem alle Organe der Arbeiterbewegung nach dem Militärputsch zerschlagen und verboten wurden, begann der große Bruder des heutigen Präsidenten mit dem Wiederaufbau von regimetreuen Arbeitnehmerverbänden. Jedoch wurden Gewerkschaften und Tarifverhandlungen nur auf betrieblicher Ebene erlaubt, Flächentarifverträge und Branchengewerkschaften sind bis heute gesetzlich verboten. Gleichzeitig wurden die Möglichkeiten zur Gründung von Subunternehmen massiv ausgeweitet. Scheinselbstständige Beschäftigungsverhältnisse sind weit verbreitet, wie beispielsweise bei den Busfahrern von Antofagasta, die in einem Streik Ende Dezember erreichten, dass der Eigentümer von Trans-Antofagasta ihnen legale Arbeitsverträge geben muss. Slide New Layer New Layer Chuquicamata, einst die größte Kupfermine der Welt, ist eine der wenigen noch staatseigenen Minen in Chile. Doch von den 17.000 Arbeitern haben gerade einmal 5.000 einen Vertrag mit der staatlichen CODELCO. Der Rest arbeitet in circa 500 Subunternehmen. Das Arbeitsgesetz verbietet eine gemeinsame gewerkschaftliche Organisation, sogar die Festangestellten sind in fünf Gewerkschaften gespalten. „Das ist eine Strategie der Spaltung von uns Arbeitern." Mauricio arbeitet in den CODELCO Hüttenwerken von Chuqui, wie er liebevoll "sein Bergwerk" nennt. "Auf einer Seite sind wir Festangestellte und auf der anderen eine total verarmte und schwache Arbeiterschaft.“

Slide Als die Regierung am Abend des 18. Oktobers den Ausnahmezustand ausruft und das Militär gegen die protestierenden Schülerinnen und Schüler auf die Straße schickt, explodiert das Land. Erinnerungen an die düstersten Kapitel der chilenischen Geschichte werden wach. Die Proteste der Schüler setzen eine Lawine in Gang, von der alle Generationen erfasst werden. Es geht nicht mehr um die Fahrpreiserhöhung von 30 Pesos (4 Eurocent) in der Hauptstadt, sondern um die 30 Jahre Post-Diktatur, in denen die Privatisierungen Pinochets immer weiter vertieft wurden. Es geht gegen die privatisierten Renten, das privatisierte Gesundheits- und Bildungssystem.

Slide Weil der Aufstand von Schülern angestoßen wird, steht die Jugend auch im Zentrum der Repression. Das jüngste Todesopfer ist gerade einmal 17 Jahre alt. Sein verkohlter Körper wurde zusammen mit vier weiteren in einer ausgebrannten Textilfabrik gefunden. Obwohl seine Leiche mehrere Schusswunden aufweist, werden noch nicht einmal eine Spurensicherung durchgeführt. Slide New Layer New Layer Bis zum Generalstreiktag am 12. November 2019 stand hier die Kooperative der Polizei. An jenem Tag koordiniert das Notstands- und Schutzkomitee – ein Zusammenschluss verschiedenster Gewerkschaften, Schüler-, Studierenden- und Nachbarschaftsverbänden – Streiks und Barrikaden, die die ganze Provinz lahmlegen. Seit dem frühen Morgen setzt die Polizei Schusswaffen gegen die streikenden ein. Als die Demonstrationen aus den verschiedenen Stadtteilen trotzdem das Zentrum erreichen, entlädt sich die Wut vor allem gegen die Symbole der Repression. Neben der Polizeikooperative geht auch die Intendenz – die höchste, nicht demokratisch gewählte Autorität in den Provinzen Chiles – in Flammen auf. Slide New Layer New Layer Während der Diktatur gab die Privatisierung der Renten unter Arbeitsminister José Piñera der chilenischen Wirtschaft eine riesige Finanzspritze ohne jagdliches Risiko für die Banken. Oft wird das Geld in hoch riskante Papiere angelegt, einen Einlagenschutz gibt es nicht. Eine Einmalauszahlung der privaten Pflichtversicherung ist nicht möglich. Das ersparte Kapital bekommen die Rentner nur in Raten ausgezahlt, wobei eine Lebenserwartung von 110 Jahren gerechnet wird. Das durchschnittliche Rentenniveau liegt bei 40 Prozent des letzten Lohnes. Dies zwingt die meisten Rentner dazu, bis zu ihren Tod weiter zu arbeiten. Slide New Layer New Layer Die Polizei setzt nicht nur Gummigeschosse und mit Säure Versätze Wasserwerfer gegen die Demonstrierenden ein, sonder auch Stahlgeschosse wie dieses.

Slide Nachdem auch die UN-Menschenrechtskommission den chilenischen Sicherheitskräften Folter und Vergewaltigungen von Gefangenen vorwirft, tauscht die Polizei Ende 2019 ihre Generäle in den Provinzen. Hier begrüßt der Intendent von Antofagasta den neuen Oberbefehlshaber der Provinz, welcher zuvor in der Region Bio Bio gedient hat. Unter seinem Kommando wurde 2018 der indigene Mapuche-Aktivist Camilo Catrillanca von Spezialkräften der Polizei ermordet.

Slide „Wir sind zu weit gegangen. Das jetzt ist wie eine Invasion. Eine Alien-Invasion“, sagte die Frau des Präsidenten in einer am 20. Oktober veröffentlichten privaten WhatsApp Nachricht. „Wir werden unsere Privilegien mit dem Rest teilen müssen.“ Drei tage später entschuldigte sie sich auf Twitter für den Alien-Vergleich. Slide New Layer New Layer Der Bildersturm richtet sich vor allem gegen Denkmäler der Kirche und der Diktatur. Soweit möglich stellt am nächsten Tag die Stadtverwaltung die von ihren Sockeln gerissenen Staturen wieder auf. Wie das Denkmal für zwei Märtyrer der Polizei: Sie wollten während der Diktatur einen gefangenen Gewerkschafter dazu zwingen, mitten in der Wüste seine eigene Familie zu erschießen. Doch anstatt seine Frau und die Kinder zu töten, erschoss er die beiden Polizisten. Slide New Layer New Layer 150.000 Pesos Rente (170 Euro) bekommt diese ehemalige Hausangestellte nach 45 Jahren Arbeit. Gerade einmal genug, um die Miete für ein kleines WG-Zimmer zu zahlen. Das Geld für ihren Lebensunterhalt und einen Kredit, den sie für eine OP aufnehmen musste, versucht sie sich zu erbetteln. „Meine Hüfte und meine Knie sind kaputt. Ich finde nirgendwo mehr eine Arbeit.“ Im Dezember verspricht Piñera das Problem der Renten zu lösen. Demnach werden die Renten vom Staat auf mindestens 150.000 Pesos aufgestockt, ohne jedoch das System der Privatrenten anzutasten. Slide New Layer New Layer Zwar werden die Proteste im Dezember 2019 schwächer, aber ein großer Teil der Bevölkerung glaubt nicht an die Reformversprechen der Regierung. Das Gesetz zur Wahl der verfassungsgebenden Versammlung erlaubt keine unabhängigen Kandidaten der Zivilgesellschaft. Nur Mitglieder der anerkannten Parteien dürfen antreten. Der Zulassungsprozess für neue Partien zieht sich über Jahre. Die Forderungen zur Geschlechterparität und reservierte Sitze für die indigenen Minderheiten werden von der Regierungsmehrheit abgelehnt. Und internationale Verträge wie Freihandelsabkommen dürfen von der neuen Verfassung nicht infrage gestellt werden. „Wir wollen nicht nur eine Reform der aktuellen Verfassung, die von denselben Politikern geschrieben wird, welche seit über 30 Jahren Chile regieren.“ Die Vorsitzende der Lehrergewerkschaft in Antofagasta, Patricia Romo, lehnt den aktuellen Verfassungsprozess ab. „Wir wollen eine freie, demokratische Versammlung mit Delegierten, die auch abgewählt werden können. Nur so können wir die großen Probleme der Arbeiterklasse diskutieren.“

Slide Wie fast jeden Tag spielt Roberto auf den Barrikaden seiner Nachbarschaft die 50 Jahre alten Hymnen von Victor Jara. Wenn er im Rauch des Tränengases Luft bekommt. Mit dem Beginn des Aufstandes explodierte auch die Kunst. In fast jeder Kleinstadt bilden sich neue Kunstkollektive und die meisten berühmten Musiker*innen widmen den Protesten ein Lied oder Konzert.

Slide „Wir sind im Krieg.“ So rechtfertigt Piñera den Ausnahmezustand an jenem Tag, als die ersten zwei Demonstranten auf offener Straße vom Militär erschossen werden.
Slide New Layer New Layer Allein im Oktober verlieren mehr als 400 Personen in Chile durch Polizeigeschosse ein oder beide Augen. Offiziell kommen 30 Menschen bei den Protesten ums Leben, aber die Liste der verschwundenen und ungeklärten Todesfälle ist lang. Slide New Layer New Layer „Ganz am Anfang des Aufstandes wurde ich in meiner Nachbarschaft von der Polizei mit scharfer Munition angeschossen. Die Kugel hat den Ischiasnerv durchtrennt und ich hab meinen Fuß verloren. Scheiß Bullenschweine! Aber nach zwei Monaten bin ich wieder auf der Straße. Mit noch mehr Wut auf diesen Mörder-Staat, in dem wir leben und mit noch mehr Wut auf Piñera mit seinem Kabinett und seinem Parlament. Purer Hass. Dieses Scheißsystem, das uns tagtäglich erdrückt, muss endlich gestürzt werden!“

Slide Ein Demonstrant hat sein altes Auto auf die Straße gefahren, um eine Barrikade gegen die Polizei zu bauen. Ältere Nachbarn versorgen die Demonstrierenden mit Wasser und Medizin. Fast alle gehen davon aus, dass mit dem Beginn des neuen Schuljahres im März 2020 die Bewegung wieder an Schwung gewinnt. Die Hoffnung aller Generationen liegt auf den Schultern der Schülerinnen und Schülern.

Slide Das Notstands- und Schutzkomitee im Stadtteil Miramar hat ihr Nachbarschaftslokal zu einem Lazarett umgewandelt. Die tägliche Repression gegen die Nachbarn hier hat zu tiefen Veränderungen geführt, wie Nata, die Sprecherin des Komitees, berichtet: „Die Nachbarin am Eingang unserer Gasse war bis zum Ausbruch des Aufstandes überzeugte Pinochet-Anhängerin. Bis ihr Sohn im Oktober auf dem Weg nach Hause von einer Zivilpatrouille festgenommen und gefoltert wurde. Seitdem beteiligt sie sich in der Gegenaufklärung des Komitees. Sie hat mit am meisten Zivilfahrzeuge der Bullen identifiziert, sodass wir Alarm schlagen können, wenn eine Patrouille in unserem Viertel aufschlägt.“
Doch der Protest muss sich von den Nachbarschaften wieder stärker in die Betriebe verlagern, meint der Gewerkschafter Lester Calderón. „Wenn wir alle die Arbeit niederlegen, lassen wir die Regierung und die Unternehmen wie beim Generalstreik vom 12. November in der Luft hängen.“ Der Sprengstoff Fabrikarbeiter ist optimistisch, dass das Komitee die Situation noch zum Positiven wenden kann. „Eine der zentralen Fragen ist, wie wir in die Diskussionen um die neue Verfassung mit einem Programm intervenieren können, welches die Millionen-Gewinne der Unternehmer infrage stellt, um die Forderungen der Bevölkerung zu erfüllen.“