Arbeit in der Krise


Arbeit in der Krise

Slide Trübe Aussichten

Ein 160 Nanometer kleines Virus brachte die Welt zum Stillstand. Ein Stillstand, der Menschenleben rettet und doch Existenzen bedroht.

Seebrücke Ahlbeck, Usedom, 9.5.2020
Slide New Layer New Layer Im Schatten des Shutdowns

Unter dem Vorwand der Pandemiebekämpfung starteten Prostitutionsgegner*innen parteiübergreifend eine Initiative zum Verbot von Sexarbeit. Verschwinden wird das Geschäft mit der Prostitution dadurch nicht. Nur unsichtbarer wird es gemacht. In eine kriminelle Schattenwirtschaft gedrängt.

Bordell in der Herbertstraße, Hamburg, 9.7.2020
Slide New Layer New Layer Im Schatten des Shutdowns

Unter dem Vorwand der Pandemiebekämpfung starteten Prostitutionsgegner*innen parteiübergreifend eine Initiative zum Verbot von Sexarbeit. Verschwinden wird das Geschäft mit der Prostitution dadurch nicht. Nur unsichtbarer wird es gemacht. In eine kriminelle Schattenwirtschaft gedrängt.

Bordell in der Herbertstraße, Hamburg, 9.7.2020
Slide New Layer New Layer (Konkurrenz-) Kampf gegen Corona

Intensives Testen ist ein wichtiges Mittel, um die Verbreitung der Pandemie zu kontrollieren. Und ein großes Geschäft. Biotech-Firmen verdoppelten teilweise ihren Gesamtgewinn durch den Verkauf von Covid-19-Tests. Um die Milliardengewinne, die ein Impfstoff bringen würde, konkurrieren weltweit 120 Firmen. Während die Hersteller_innen der Waffen gegen Corona das Geschäft ihres Lebens machen, setzen täglich Tausende Freiwillige ihre Gesundheit aufs Spiel, um wie hier Abstriche für Covid-19-Tests zu ermöglichen.

Drive-In-Coronatest, Fliegerhorst Gütersloh, 26.6.2020

Slide Zum rasanten Aufstieg der Berliner Tourismusindustrie trug die große Clubkultur bei. Seit einigen Jahren schon werden die Clubs jedoch zum Opfer ihres eigenen Hypes. Sie mussten lukrativeren Geschäften und Hotels weichen. Nicht erst seit Corona ist vom Clubsterben die Rede, doch jetzt könnte das Virus zum Sargnagel vieler Lokale werden. „Bis Ende August haben wir mit Sicherheit geschlossen“, sagt Holger Meier, Mitglied des Clubkollektivs „Mensch Meier“. Lange sind sie unter keinen Rettungsschirm gekommen. Mit knapp über 10 Mitarbeiter_innen waren sie zu groß für die 15.000 € Soforthilfe der Stadt und als Club profitierten sie auch nicht von Subventionen für Kulturbetriebe. „Wenn keine Hilfen vom Staat kommen, ist da für uns kein Land in Sicht. Um die laufenden Kosten bis Ende August zahlen zu können, brauchen wir weit über 100.000 Euro.“ Indes veranstaltet der Club „Streaming-Partys“. „Tod denen, die versuchen, sich zu bereichern an den Andern“, schreit die Band „Vizediktator“ in den leeren Saal. Ein Geisterkonzert. Die einzige Zuschauerin: eine Kamera. „Denn nur der Tod hält, was er verspricht.“ Streaming-Konzert, Club „Mensch Meier“, Berlin, 22.4.2020 Geisterstunde

Slide Die gelben Quarantäneflaggen gehisst, irrten viele Kreuzfahrtschiffe wochenlang über die Meere. Aus Angst, die Passagiere könnten die Seuche an Land bringen, verweigerten viele Länder das Einlaufen der Vergnügungsschiffe in ihre Häfen. Oft konnte erst durch diplomatische Bemühungen des Außenministeriums die Landung und der Rücktransport der Reisegäste nach Deutschland erwirkt werden. Für die 100.000 Matros_innen und Maschinist_innen, Köch_innen und Kellner_innen, Entertainer_innen und Putzkräfte deutscher Kreuzfahrtreedereien gab es jedoch keinen vergleichbaren Einsatz. Monatelang saßen die Crews auf den Kähnen fest. Wegen einer Kettenquarantäne oder Reiseeinschränkungen. Im Fall des Kreuzfahrers „Mein Schiff 3“, auf dem 2900 Besatzungsmitglieder festgehalten wurden, startete TUI erst Rückführaktionen der Crew in firmeneigenen Flugzeugen, nachdem es zu Aufständen auf dem Schiff gekommen war. Um Liegekosten im Hafen zu sparen, ankerten viele Kreuzfahrtschiffe auf hoher See. Schlechtes Essen und überteuerte Zigaretten spitzten die Konflikte noch weiter zu. Während des Lockdowns kam es zu mehreren Selbstmorden von Crew-Mitgliedern. Um die Stimmung zu befrieden und die Politik um Hilfe zu bitten, unterstützen Reedereien im Hamburger Hafen dieses Mini-Konzert für die eingeschlossenen Crews. Corona-Port-Concerts, Hamburger Hafen, 5.7.2020 Traumschiff

Slide „Die Lufthansa nutzt die Corona-Krise schamlos für ihren Konzernumbau aus, gegen den wir seit Jahren kämpfen.“ Flugbegleiter Maximilian Kampka ist wütend. Wie andere Lufthansa-Töchter arbeitet seine Airline Germanwings nur noch als Subunternehmen für die Eurowings. „Sie lassen ihre eigenen Töchter miteinander konkurrieren, um die Löhne zu drücken. Trotzdem haben wir bei der Germanwings noch relativ gute Arbeitsbedingungen halten können. Dafür mussten wir aber hart kämpfen.“ Am letzten Streik zur Jahreswende beteiligten sich 95 % der Flugbegleiter_innen. „Deshalb nutzt der Konzern jetzt den Stillstand, um uns über die Klinge springen zu lassen.“ Letztendlich kaufte der Staat den Lufthansa-Konzern zu einen vielfachen des Marktwertes. Auf Druck der Privataktionär_innen verzichtete der Staat weitestgehend auf eine Mitbestimmung als Mehrheitseigentümer, um den Angriffen auf die Belegschaft freien Lauf zu lassen. Maximilian blickt mit Sorge in die Zukunft. Die Krise könnte auch für seine Familie zu einem Drama werden. Er lebt bei seiner alleinstehenden Mutter und seinem minderjährigen Bruder, die gerade den Tod des Vaters betrauern. Mutter und Sohn fliegen seit Jahren für die Germanwings. Mit den zwei Gehältern können sie für die Familie eine geräumige Wohnung mieten. „Aber nur mit dem Arbeitslosengeld wird das schwierig.“ Flughafen Köln/Bonn, 21.4.2020 Auf zu neuen Höhenflügen

Slide Um den deutschen Spargel zu retten, reagiert die Bundesregierung schnell. Luftbrücken werden eingerichtet, um die Wanderarbeiter_innen aus Osteuropa trotz geschlossener Grenzen auf die Äcker zu bringen. Der andere Teil der Verabredung, dass die Bäuer_innen Schutzmaßnahmen für die Gesundheit der Wanderarbeiter_innen ergreifen, wird jedoch selten eingehalten. Kontrollen, ob eine Einzelunterbringung gewährleistet wird, finden kaum statt. Fehlende Lohnfortzahlung bei Krankheit führt dazu, dass auch mit Husten und Fieber bis zum Umkippen weiter geschuftet wird. „In Rumänien kursiert mittlerweile ein Sprichwort: Wenn du den Tod suchst, dann gehe nach Deutschland“, erzählt Bauer Ricken. Aus Angst seien fast nur die Brigade-Chefs gekommen. „Wenn das so weiter geht, habe ich hier bald hundert Häuptlinge, aber keine Indianer.“ Trotz der großen Gefahr, die mit der Arbeit in Coronazeiten verbunden ist, fallen die Löhne dieses Jahr geringer aus: Die Mehrkosten für Verpflegung, Unterkunft und Flugtransport wälzen die meisten Bauern mittels Lohnabzügen auf die Wanderarbeiter_innen ab. Damit die Erntehelfer_innen nicht die Flucht ergreifen, werden ihnen auf einigen Höfen auch die Ausweise abgenommen. Auf etlichen Landwirtschaften traten Arbeiter_innen erstmals gegen diese traditionsreichen Menschenhändler-Methoden in den Streik. Auch auf dem Hof Ricken kam es wegen der hohen Lohnabzüge und den Hygienebedingungen zu Arbeitsniederlegungen.
Herr Ricken betont jedoch, dass er sich persönlich um die Einhaltung der Hygienevorschriften kümmere: „Ich erzähle ihnen immer, sie sollen beim Händewaschen zweimal Happy Birthday singen oder ein Ave Maria und ein Gelobt seist du Gott beten.“
Hof Ricken, Lausitz, 8.4.2020 Aufgewirbelter Staub

Slide Er hat es geschafft. Den schwierigen Aufstieg vom Wanderarbeiter zum Vorarbeiter. Ohne Vorgesetzte, die Rumänisch, Polnisch, Ungarisch oder Serbokroatisch sprechen, würde der größte Schlachthof Deutschlands nicht funktionieren. Jeder einzelne Produktionsschritt, von der Schlachtung der täglich 25.000 Schweine bis hin zu Verpackung und Versand, ist bei Tönnies über Werkverträge an osteuropäische Personalagenturen vergeben. Um die Produktion zu steigern, werden hier nicht die Maschinen, sondern die Menschen auf Verschleiß gefahren. Sechs Tage die Woche wird in 10- bis 12-Stunden-Schichten geschuftet. Offiziell bezahlen die Personalagenturen deutschen Mindestlohn für acht Stunden am Tag. Verpflichtende Überstunden werden nicht bezahlt. Hinzu kommen Lohnabzüge für Arbeitskleidung und Schlachtermesser. Die Unterbringung im Vierbettzimmer kostet die Wanderarbeiter_innen noch mal zwischen 230 und 350 Euro im Monat. An Krankheitstagen wird 10 Euro mehr für das Bett in Rechnung gestellt und im Fall einer meist fristlosen Kündigung müssen sie unverzüglich die Unterkunft räumen. Das Einfamilienhaus des Vorarbeiters, in dem er mit seiner Frau und Kindern die Quarantäne verbringen kann, erscheint dagegen wie ein Palast. Mobile Testbrigade, Gütersloh, 29.6.2020 Das System macht krank

Slide „So was haben wir seit dem Mauerfall nicht mehr gesehen“, erzählt eine schockierte Usedomerin. „Die ersten Tage nach der Grenzschließung haben wir sogar mehrfach Schüsse von der Grenze gehört!“
Die Metropolregion Stettin ist seit dem Schengenbeitritt Polens über die Grenze gewachsen.
Es ist Alltag geworden, dass Polen und Deutsche an der Stettiner Universität zusammen studieren und in den deutschen Vororten gemeinnsamm arbeiten. „Wenn die Grenze nicht wäre, hätten wir schon längst einen U-Bahn-Anschluss nach Stettin.“ Pfarrer Riegel schaut lachend in die Mündung der Maschinenpistolen. Jetzt trennt der Stacheldraht auch seine Familie. Mit dem Ausbruch der Pandemie wurden die Grenzen abgeriegelt und die polnische Regierung schickte das Militär inklusive Schießbefehl an die Grenze, um illegale Übertritte zu verhindern. Die Wirtschaft Mecklenburg-Vorpommerns funktioniert aber ohne die polnischen Arbeiter_innen nicht. Speziell in den Krankenhäusern im Osten des Landes kommt oft die Hälfte der Pfleger_innen aus Polen. Die Familien, die nicht das Glück haben einen Passierschein zu bekommen, treffen sich hier am Strand zwischen Swinemünde und Ahlbeck. Unter Beobachtung der Soldat_innen. Ständig in der Angst, das kleine Kind könnte versehentlich doch unter dem Flatterband zu Papa rüber krabbeln oder irgendein anderer Anlass provoziere die Soldaten.
Usedom, 8.5.2020 Bruderland

Slide Bewegung an der frischen Luft hält gesund. Auch mit diesem Argument versuchten Landwirtschaftsbetriebe in Deutschland Ersatz für die Erntearbeiter_innen aus Osteuropa zu finden. Die Studierenden der TU Cottbus suchen hier während des ersten Lockdowns jedoch mehrheitlich keine sportliche Aktivität unter freiem Himmel, sondern einen Ersatz für ihre Arbeit, die sie durch die Pandemie verloren haben. Die 7,5 Millionen Menschen, welche ihren Lebensunterhalt mit Mini-Jobs bestreiten müssen, haben keinen Anspruch auf Kurzarbeiter_innengeld. Vielen wurde einfach gekündigt. Die Mieten, selbst an das staatliche Studierendenwerk, mussten jedoch im vollen Umfang weitergezahlt werden. Studierende können keine Hartz-IV-Leistungen beziehen und Ausländer_innen sind auch von BAföG und KfW-Studienkrediten ausgeschlossen. Erst nach Ende des Lockdowns wurden Corona-Überbrückungshilfen für Studierende eingerichtet. 7% der in Deutschland studierenden Menschen konnten sich um eine Einmalzahlung von 500 Euro bewerben, wenn sie nachweislich kein Geld mehr auf ihrem Konto hatten. Theoretisch hätte gut jede_r zweite ausländische Student_in im Juni dieses Geld beantragen können: wenn für die erneute Immatrikulation im August nicht Rücklagen von ca. 12.000 Euro angespart sein müssten. So trieben nicht die frische Luft, sondern die 70 Cent pro Kilo Spargel viele Studierende auf die Felder. Unter hohem körperlichem Einsatz konnte so die Versorgung der Deutschen mit dem delikaten und gesunden Gemüse sichergestellt werden. Vetschau, 8.4.2020 Studentensommer

Slide Kurz vor der Grenzschließung nach Polen kehrte die Medizinstudentin Paulina aus Stettin zurück zu ihren Eltern nach Berlin und begann als medizinische Hilfskraft an einem Zehlendorfer Krankenhaus zu arbeiten. Medizinisches Personal wird händeringend an allen Ecken und Enden gesucht. Vor dem Ausbruch der Seuche fehlten bereits zwischen 50.000 und 80.000 Pflegekräfte an deutschen Krankenhäusern. Einfache Tätigkeiten, wie hier bei einer Corona-Schnelluntersuchung vor dem Betreten des Krankenhauses oder Testabstriche nehmen, lassen sich durch Hilfskräften mit medizinischer Grundausbildung besetzen. Für die Bewirtschaftung der Reservekrankenhäuser, die quer über das Land entstanden, gibt es jedoch nicht genug Pflegepersonal. Um dem Personalmangel entgegenzuwirken, wurden die Arbeitszeiten von 8 auf 12 Stunden am Tag verlängert und die Ruhezeiten von 11 auf 9 Stunden verkürzt. Zudem wurde der gesetzliche Pflegeschlüssel, welcher vorschreibt, wie viele Pflegekräfte pro Bett im Dienst sein müssen, ausgesetzt. Während der ersten Welle wurde davon sehr selten Gebrauch gemacht. Mit der Rückkehr zum Normalbetrieb jedoch wurden auf vielen Stationen neue Betten geschaffen, um möglichst schnell die Verluste zu kompensieren. Ab wann macht dieses Arbeitsfieber krank?
Berlin, 21.7.2020 An vorderster Front

Slide „Wir wollen nicht nur beklatscht werden“, entrüstete sich eine Pflegerin am 1. Mai. „Seit Jahren fordern wir mehr Personal und faire Löhne. Für die Politik waren wir nicht systemrelevant, sondern nur Kostenfaktor.“ An fast allen Häusern wurden, um Personalkosten zu sparen, die sogenannten „Patientenfernen Dienstleistungen“ von der Reinigung bis zum Labor ausgegliedert. Jetzt werden Corona-positive Pfleger_innen aus Personalmangel genötigt, trotzdem weiterzuarbeiten. Dies dürfte neben fehlender Schutzausrüstung auch ein Grund sein, warum sich viele Patient_innen erst im Krankenhaus mit Corona angesteckt haben.
Demonstration vor dem Urban-Krankenhaus, Berlin, 1.5.2020 „Plötzlich Systemrelevant“

Slide Mit Beginn der Ausgangsbeschränkungen probierten Behörden unter Verweis auf die Corona-Schutzverordnung alle politischen Versammlungen zu verbieten. Erst das Bundesverfassungsgericht stellte am 16. April fest, dass das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit nicht pauschal ausgesetzt werden darf, sondern mit Hygieneauflagen zu genehmigen ist. Die Kreuze auf dem Boden markieren die Standpunkte der begrenzten Teilnehmer_innenzahl einer Versammlung.
Auf die gesetzlich nicht verankerte „Unternehmerische Freiheit“ wurde indes mehr Rücksicht genommen: Die am 20. April verabschiedeten Corona-Arbeitsschutzstandards haben größtenteils nur einen empfehlenden Charakter und sehen keine Sanktionsmaßnahmen vor.
Hermannplatz, Berlin, 1.5.2020 Die Massen auf Abstand halten

Slide Der erste Streik während der Pandemie fand in einer Allgäuer Fabrik für Spezialgetriebe statt. Obwohl das Werk Millionengewinne machte und als Kraftwerkausstatter kaum um Auftragseinbrüche in der Krise fürchten musste, beschleunigte das Familienunternehmen Voith die Verlagerung der Produktion während der Pandemie. „Es war sehr schwierig, während der Pandemie richtig zu kämpfen“, erinnert sich der Mechaniker Benjamin Schmittler. Nach 33 Tagen endete der Streik in einer Niederlage: Die Schließung des Werkes wurde nicht abgewendet. Viele Beschäftigte waren wütend auf die IG-Metall-Führung. „Hätten wir noch zwei Wochen weiter gestreikt, wäre ein viel besseres Ergebnis drin gewesen.“ Über die Frage, ob der Streik weiter geführt werden sollte oder nicht, ließ die IG-Metall gar keine Diskussion zu. Sie informierte in einer Videokonferenz nur über das Ergebnis. Rederecht hatten nur die Gremienmitglieder der Tarifkommission. Nach dem gemeinsamen Kampf musste jede_r für sich, isoliert in den eigenen vier Wänden, in einer Nacht über die Konditionen der Kapitulation entscheiden. „In den Chatgruppen vieler Bereiche und Schichten hat sich gezeigt, dass die Bereitschaft zum weiterstreiken vorhanden war“, so Schmittler. „Ohne Corona hätte es bestimmt auch eine große Versammlung gegeben und da wären die Diskussionen mit Sicherheit anders gelaufen.“
Voith-Sonthofen, Allgäu, 18.5.2020 Unsoziale Distanz auf den letzten Metern

Slide Die Pandemie lässt die schwimmenden Schatzkammern der Frachter zu Gefängnissen werden. Während die Ablöse der meist russischen Offizier_innen nach den ersten zwei Pandemiemonaten wieder weitestgehend normal funktioniert, muss die einfache Mannschaft, meist Filipinos, wegen Corona 12, 14 oder sogar 16 Monate an Bord ausharren. Nie hört es auf unter den Füßen zu wackeln und in den Ohren zu dröhnen. Vor dem Ausbruch der Seuche durfte ein Arbeitseinsatz auf See maximal neun Monate dauern, bevor die Reederei ihrer Crew drei Monate unbezahlten Heimaturlaub gewähren musste. Panama weitete als erster Flaggenstaat diese Maximalzeit auf 14 Monate zur See aus. 14 Monate statt neun, eingeschlossen auf einer schwimmenden Blechbüchse und meist ohne die Möglichkeit, von Bord zu kommen.
Schüttgutfrachter „Nordic Odin“, Hamburger Hafen, 5.7.2020 Rette sich, wer kann

Slide Die Lunge rasselt, als Fadi Taqash bei dem ersten Beratungstermin seit Ausbruch der Pandemie zu einer Anwältin des Flüchtlingsrates spricht. Seine Beine schwellen immer wieder so stark an, dass sie Wasserfässern gleichen. „Mein Körper ist kaputt. Ohne medizinische Unterstützung überlebe ich nicht. Trotzdem wollen die mich nach Jordanien abschieben.“ Ein Land, welches Fadi nicht kennt. Seine Eltern wurden aus Palästina vertrieben, er wuchs in einem Flüchtlingslager im Libanon auf. Doch auch Deutschland ist kein sicheres Land für ihn. Weniger noch in Corona-Zeiten. Wie die meisten anderen Risikopatient_innen bewohnt er kein Einzelzimmer. Das Recht, durch seine eigenen Hände Arbeit eine Wohnung zu finanzieren, hat er als Asylbewerber nicht. Statt einer dezentralen Unterbringung von Asylsuchenden wird seit Jahren wieder zunehmend auf eine Konzentration gesetzt. In den Lagern ist Social Distancing meist unmöglich – in „Anker-Zentren“ wie Geldersheim, die unter Kettenquarantäne gestellt wurden, war die Situation noch schlimmer. Über Monate erfolgte die Unterbringung gemeinsam mit positiv Getesteten auf engstem Raum. In dem Münchner Übergangslager Lotte-Branz-Straße wurden während der Pandemie 8-Bett-Zimmer mit bis zu 11 Personen belegt. Kranke Geflüchtete hinter Schloss und Riegel eingesperrt und am Tag nur für ein oder zwei Gänge zur Gemeinschaftstoilette herausgelassen. Reinigungsmittel gab es nicht. „Das ist schlimmer als Gefängnis, Bro.“ Wenige Wochen nach dem Interview liegt Fadi mit einer Lungenentzündung im Krankenhaus. Ankerzentrum Fürstenfeldbruck, Bayern, 19.5.2020 Im Land der Freiheit

Slide „Wir sind Menschen keine Tiere!“ Marius ist wütend über die Sippenhaft, in die er und andere Wanderarbeiter_innen sich genommen fühlen. Mit dem Corona-Ausbruch bei Tönnies entschloss sich die Stadt Verl, alle Häuser, in denen ausländische Arbeitskräfte einquartiert sind, unter Quarantäne zu stellen. Ganze Straßenzüge wurden mit Bauzäunen abgeriegelt und neben einem starken Polizeiaufgebot engagierte die Stadt einen privaten Wachschutz, um die Quarantäne zu überwachen. Von den 668 Personen unter Quarantäne wurden in den ersten elf Tagen 350 bis 400 Personen getestet. Darunter hätte es lediglich ein nicht eindeutig positives Testergebnis gegeben, erzählt Heribert Schönauer, Stellvertreter des Verler Bürgermeisters. „Die eine Frau haben wir heute rausgezogen. Damit die anderen sehen, dass es ernst ist.“ Nach elf Tagen begann die Stadt für mehrfach negativ getestete Menschen Passierscheine auszustellen. „Den Zaun werden wir aber noch länger als Zeichen stehen lassen.“ Wie das mit den Mieten aussieht und ob die unter Quarantäne Stehenden Lohnfortzahlungen bekommen, wisse er nicht. Aber Tönnies habe sich um die Verpflegung aller gekümmert und nicht nur um den kleinen Teil, der bei ihnen arbeitet. „Dabei haben wir natürlich auch auf die Ernährungsgewohnheiten geachtet. Vietnamesen bekommen ihr Thai-Essen... Die Leute sind hochzufrieden, soweit das möglich ist.“ Zollhausweg, Verl, 27.6.2020 „Hoch zufrieden“

Slide Ideologisiert wurde der Rassismus mit der Einführung der Sklaverei. Versklavte Menschen wurden mit Tieren gleichgestellt, um deren harte Ausbeutung zu legitimieren. Unterdrückung ist lukrativ.
Auch der wirtschaftliche Erfolg der BRD baut auf dem ständigen Nachschub von billigen Arbeitskräften aus dem Ausland. Von den Gastarbeiter_innen-Verträgen über die EU-Arbeitnehmer_innen-Freizügigkeit bis zu den Asylrechtsverschärfungen. Das „Positive“ am Rassismus: wenn die „dreckigen Ausländer“ an der Ausbreitung der Krankheit schuld sind, können es ja nicht die Arbeitsbedingungen sein.
#BlackLivesMatter Demonstration, Berlin, 6.6.2020 Rassismus? Systemrelevant.

Slide Wehrend Länder wie Südkorea seit beginn der Pandemie auf eine umfangreiche Teststrategie setzten, lief das Testen in Deutschland sehr schleppend an. Anfang Mai – am Ende der ersten Welle – gab es lediglich Kapazitäten von 150.000 PCR-Tests am Tag. Erst mit den sinkenden Fallzahlen im Sommer wurde es möglich, alle symptomatischen Menschen zu testen und nicht nur jene, die nachweißlich Kontakt mit einer positiv getesteten Person hatten. Mit flächendeckenden Massentests begann Deutschland erst sehr spät: ein Jahr nach dem ersten Lockdown. 18 Euro bekamen die privaten Startups pro Test bezahlt. Nachweise über die tatsächlich durchgeführten Tests verlangte das Gesundheitsministerium zunächst nicht, bis sich die Betrugsfälle häuften. Recherchen von WDR, NDR und SZ deckten die ersten Betrugsfälle auf, vor denen Gesundheitsminister Spahn auch aus den eigenen Reihen gewarnt wurde. Ein Köllner Testzentrum rechnete statt 70 durchgeführten Tests fast 1000 ab. Ende August 2021 liefen bundesweit um die 100 Ermittlungsverfahren wegen Betrugsverdacht gegen Anbieter_innen von Schnelltests. Während des Beginns der vierten Welle beschloss die Bundesregierung die kostenlosen Schnelltests einzustellen.
Testzentrum einer geschlossenen Kneipe, Berliner, 1.6.2021 Die Party ist vorbei?

Slide „Auftrag erfüllt, Frau Ministerin!“, mit diesen Worten eröffnet der Prignitzer Landrat Mitte März das zwölfte Impfzentrum in Brandenburg. Auf dem Parkett der großen Turnhalle von Perleberg stellt das Rote Kreuz (DRK) kleine Kabinen und Hunderte Stühle auf. Auch wenn die Pokale nicht dem DRK gewidmet sind, ist der Chef des Zentrums, Johannes Neumann, stolz auf die geleistete Arbeit. Am ersten Tag wird eine der acht Impfstraßen in Betrieb genommen. „Nach Ostern erst werden wir im vollen Betrieb mit acht Impfstraßen von 8 Uhr morgens bis 8 Uhr abends impfen können.“ Vor der Turnhalle haben sich am Tag der Eröffnung zwei Frauen mit Pappschilden hingestellt. „Lieber inkontinent als inkompetent“. Sie kritisieren, dass Pflege-WGs bisher nicht geimpft werden. „Wir haben die Anweisung vom Landrat nur Einrichtungen mit über 45 Bewohnern zu impfen“, meint Johannes Neumann. Trotz der komplizierten Kühlketten des Biontech-Impfstoffes sei dies kein logistisches Problem, sondern ein politisches. „Wir sind nur ausführendes Organ und müssen uns an die Anweisungen der Politik halten.“
Ein wichtiger Teil der Impflogistik wird von Freiwilligen des DRK verrichtet, während unter den Impfstoffherstellern Goldgräberstimmung herrscht. 13 Milliarden US-Doller könnte Pfizer/Biontech laut Berechnungen der Investmentbank Morgan Stanley dieses Jahr mit dem Impfstoff machen. Die Entwicklungskosten jedoch wurden größtenteils von den deutschen Steuerzahler_innen finanziert: 375 Millionen investierte der Staat ohne Gegenleistung vergangenes Jahr in Biontech.
Impfzentrum Prignitz, Perleberg/Brandenburg, 16.03.2021 Impfen wie die Weltmeister?

Slide Jonas und Marthe hatten Glück im Unglück. Kurz nach dem Tod ihres Sohnes Aljoscha während der zweiten Welle erlaubte der Betreiber dieser Berliner Trauerhalle wieder Abschiedsfeiern im kleinen Rahmen. Für Zugehörige von Corona-Verstorbenen ist es jedoch fast unmöglich, ihre Toten noch mal sehen zu können. Ihnen bleibt nur ein versiegelter Sarg oder eine Urne am Grab. Der letzte persönliche Kontakt ist der noch hoffnungsvolle Abschied vor dem Weg ins Krankenhaus. Obwohl das RKI diesbezüglich nie eine Empfehlung ausgesprochen hat, ist es beispielsweise in Sachsen und Baden-Württemberg gesetzlich verboten, verstorbene nochmal aus dem Plastiksack zu nehmen. Die meisten großen Bestattungshäuser, die eigene Trauerhallen vermieten, genehmigen Abschiedsnahmen von Covid-Verstorbenen prinzipiell nicht. In der ersten Welle war es oft noch nicht einmal den Bestatter_innen erlaubt, die Toten zu sehen. „Auch wenn Verstorbene nicht mehr atmen, kann beispielsweise beim Bewegen kontaminierte Luft aus den Lungen entweichen“, meint Sarah Benz, die Bestatterin von Aljoscha. Natürlich müssten sich auch Bestatter_innen am Arbeitsort schützen. „Aber man kann Sicherheitsmaßnahmen treffen und mit Abstand und Vorsicht auch Covid-Verstorbene noch mal aufbahren. Wir dürfen nicht aufhören, nach Möglichkeiten zu suchen!“ Für Jonas und Mathe war die Zeit, die sie mit ihrem Sohn vor seiner Einäscherung verbringen konnten, Gold wert, um den Tod besser fassen zu können. Berlin, 19.1.2020 Abschied auf Distanz