Polizei nahm Schwerverletzte auf LL-Demo in Kauf
Wer von Polizeigewalt auf der diesjährigen Luxemburg-Liebknecht-Demonstration spreche, stelle die Ereignisse falsch dar, meinte Berlins Innensenatorin Iris Spranger (SPD). Nun scheint sich aber die Sichtweise der Innensenatorin zunehmend als falsch zu erweisen.
von Simon Zamora Martin im Neues Deutschland
»Es ist in Kauf genommen worden, dass Menschen mit schwersten Verletzungen ins Krankenhaus eingeliefert werden«, verkündete Spranger bei einer Sitzung des Innenausschusses im Berliner Abgeordnetenhaus. Polizeikräfte seien von Demonstrant*innen mit Zaunlatten und Metallstangen angegriffen, ihnen seien Helme von den Köpfen gerissen worden. Im Internet kursieren Videos, die teilweise ein sehr brutales Vorgehen der Polizei zeigen. Aber diese Gewalt sei nur die Reaktion auf vorherige Angriffe der Demonstierenden gewesen. Wer hier, wie der Abgeordnete Ferat Koçak (Linke), über Polizeigewalt spreche, trage zur »Verrohung der Gesellschaft« bei. Die Anschuldigungen gegen den Abgeordneten aus Neukölln waren hart und ernteten viel Beifall aus SPD, CDU und AfD. Aber waren sie gerechtfertigt?
Koçak war am 14. Januar als parlamentarischer Beobachter vor Ort und konnte sich mit eigenen Augen ein Bild von den Geschehnissen auf der Frankfurter Allee machen. Ein Video, das er am Freitag gemeinsam mit der Bundestagsabgeordneten Gökay Akbulut (Linke) zusammen mit einem Bericht veröffentlichte, zeigt eine andere Version vom Beginn der Auseinandersetzung. Eine Gruppe von über 50 Polizist*innen steht mitten in der Demonstration und hindert den Aufzug ganz offenbar daran, weiterzuziehen. Angriffe mit Zaunlatten und Metallstangen auf die Polizei sind nicht zu sehen. Demonstrierende versuchen allerdings mit Menschenketten, die Polizei abzudrängen, als die Beamt*innen plötzlich anfangen, in die Menge zu schlagen. Sie zielen dabei auf die ungeschützten Köpfe von Demonstrierenden, während anders herum einige Fahnenstangen auf ihre Helme niedergehen.
Wie ist es zu der Situation gekommen? Die Lage begann sich zuzuspitzen, nachdem ein Sprecher des Palästina-Blocks von der Polizei festgehalten wurde, weil dieser per Lautsprecher die Losung »From the river to the sea, Palestine will be free« durchgegeben haben soll. Die deutsche Übersetzung lautet: »Vom Fluss bis zum Meer, Palästina wird frei sein.« Wenn sich aber Palästina vom Fluss Jordan bis zum Mittelmeer erstrecken würde, wäre kein Platz mehr für den Staat Israel, wird mittlerweile argumentiert, warum eine solche Parole als volksverhetzend zu werten sei. Die Personalien des Beschuldigten wurden aufgenommen. Nach nd-Informationen bestreitet er den Vorwurf allerdings. Demonstrierende vernahmen nach eigenen Aussagen, der Mann habe stattdessen gerufen: »From the sea to the river, Palestine will live forever.« Also: »Vom Meer bis zum Fluss, Palästina wird für immer leben.«
Die Demonstration stoppte, bis die Polizei informierte, der Beschuldigte sei auf freien Fuß gesetzt, aber auf Verlangen der Versammlungsleitung von dem Aufzug ausgeschlossen worden. Die parlamentarischen Beobachter*innen werfen der Polizei eine bewusste Falschaussage vor, die zur Eskalation maßgeblich beigetragen habe. Auch Ellen Brombacher von der Kommunistischen Plattform versichert, die Leitung der Liebknecht-Luxemburg-Demonstration habe den Mann keineswegs ausgeschlossen.
Schon vorausgelaufene Demonstrierende kehrten zum Palästina-Block um. Einige von ihnen versuchten, die Einsatzkräfte von der Straße zu drängen, um den Weg für die Demonstration freizumachen. Darauf reagierte die Polizei mit unverhältnismäßiger Härte. Die parlamentarischen Beobachter*innen schildern dies folgendermaßen: »Mehrere Einsatzkräfte schlugen auf Demonstrant*innen ein, drückten sie mit Gewalt auf den Boden, drehten ihre Hände auf den Rücken und fixierten sie.« 16 Demonstrant*innen seien teilweise schwer verletzt worden.
Sanitäter*innen mussten unter anderem Knochenbrüche und Schädel-Hirn-Traumata behandeln. Dazu sei es durch gezielte Schläge auf die Köpfe der Demonstrierenden gekommen, berichten Sanitäter*innen. Unter den Verletzten befand sich auch ein über 70-jähriger Rentner, der mit einem lebensbedrohlichen Schädel-Hirn-Trauma erst vor Ort und dann im Krankenhaus behandelt werden musste, weil ihn ein Polizist ins Gesicht schlug. Videoaufnahmen belegen die Vorwürfe. Eine Gruppe der vierten Einsatzhundertschaft lief über den Gehweg, um auf der Straße stehende Demonstrant*innen anzugreifen. Ein Polizist, der sich möglicherweise durch die Fahne des alten Mannes gestört fühlte, dreht sich um, hielt den Rentner mit der linken Hand fest und schlug ihm mit voller Wucht ins Gesicht. Ein dumpfer Aufschlag ist zu hören, als der Rentner auf das Pflaster prallt. Der Polizist kniet einen Moment auf dem alten Mann, lässt den Schwerverletzten dann liegen.
Sanitäter*innen, die den lebensbedrohlich verletzten Rentner behandelten, berichteten später, wie ihr Rettungseinsatz von der Polizei behindert worden sei. Die Polizei habe sich auch geweigert, einen Notarzt zu rufen. »Stattdessen wurden wir geschubst, unsere Rettungsrucksäcke getreten und durch die Gegend geworfen«, erklärte ein Sprecher des Sanitätsnetzwerkes Hamburg. Auch hier belegen Videoaufnahmen, wie die Polizei die Rettungsmaßnahmen behinderte. So prügelten sie anfänglich in direkter Nähe des Schwerverletzen weiter und schubsten einen Ordner, der versuchte, die Behandlung abzuschirmen. Mehrfache Beschwerden des behandelnden Sanitäters änderten daran offenbar nichts. Spätere Videoaufnahmen zeigen, wie die Polizei den Behandlungsort dann selbst abschirmte, aber den Sanitäter*innen kaum Platz zum Agieren ließ. Stattdessen warfen Beamte einen Rettungsrucksack durch die Gegend, von dem sie sich offenbar gestört fühlten.
Auf Anfrage teilte die Polizei mit, dass sie gegen den schwer verletzten Rentner Ermittlungen wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte eingeleitet habe. Es liege auch eine Anzeige des Verletzten wegen Körperverletzung im Amt vor. Jedoch nur, weil der Rentner von einer unbekannt gebliebenen Polizeikraft geschubst worden und unglücklich zu Boden gefallen sei. Dass die Polizei Rettungskräfte behindert habe, wird von ihr bestritten.
»Es ist in Kauf genommen worden, dass Menschen mit schwersten Verletzungen ins Krankenhaus eingeliefert werden.« Diesen Vorwurf hätte Innensenatorin Spranger offenbar eher gegen die Polizei als gegen die Demonstrierenden erheben müssen. Nach Angaben der Polizei konnten alle 25 verletzten Einsatzkräfte ambulant versorgt werden. 21 erlitten lediglich Prellungen und Zerrungen. Zu den Verletzungen der restlichen vier Polizisten, die ihren Dienst nicht fortsetzen konnten, machte die Polizei keine Angaben.
Auf die Vorhaltungen hinsichtlich des alten Mannes reagierte die Senatsinnenverwaltung am Freitag mit der Erklärung, der Sachverhalt sei Gegenstand von Strafverfahren. »Zu laufenden Verfahren können keine weitergehenden Informationen gegeben werden.« Zu einer etwaigen Behinderung von Rettungskräften liegen laut Innenverwaltung weder ihr selbst, noch der Polizei und der Feuerwehr Erkenntnisse vor.
Linke-Politiker Koçak beklagt gegenüber »nd«, dass sich Senatorin Spranger nicht sachlich mit seinen Beobachtungen auseinandersetzte, sondern ihn lediglich der Falschaussage bezichtigte. »Seitdem werde ich insgesamt im Abgeordnetenhaus von SPD bis AfD als Linksextremist diffamiert«, berichtet Koçak. Er fordert von Innensenatorin Spranger und von Polizeipräsidentin Barbara Slowik eine Aufarbeitung der Polizeigewalt bei der Liebknecht-Luxemburg-Demonstration.