Falscher Name
Immer häufiger liest man von der sogenannten Clankriminalität. Aber was soll das eigentlich sein? Wir haben uns mal bei der Polizei umgehört und Menschen getroffen, die gegen Vorverurteilungen kämpfen
von Simon Zamora Martin im fluter
Mit 15 wollte Mohammed Ali Chahrour Polizist werden und auf Verbrecherjagd gehen, wie er sich heute erinnert. Bei einer Berufsorientierung an seiner Schule sei er bei einem Bewerbungstest der Polizei sogar Klassenbester gewesen, und dennoch habe man ihm wenig Hoffnung gemacht, seinen Traum verwirklichen zu können. „Der Kommissar meinte, dass ich in Berlin kein Polizist werden könnte – wegen meines Nachnamens.“ Der Name Chahrour taucht bis heute immer wieder in der Presse auf – als vermeintliches Beispiel für eine arabische Großfamilie, die mit mehreren Straftaten in Verbindung gebracht wird.
Statt Polizist zu werden, studierte Chahrour schließlich Sozialwissenschaften, arbeitete für Reporter ohne Grenzen und das Auswärtige Amt. Und gründete 2019 die Initiative „Kein Generalverdacht“, die sich gegen eine Kriminalisierung von Menschen aus Einwandererfamilien in Neukölln wehrt – und gegen das Klischee von der kriminellen Großfamilie, das vor allem von der Boulevardpresse gern bedient wird. Mit der erfolgreichen Streamingserie „4 Blocks“ dürfte sich das Bild von der mafiösen Neuköllner Sippe mit arabischen Wurzeln landesweit verbreitet haben. In der Serie geht es um einen arabischen Clan in Neukölln, dessen Oberhaupt den illegalen Machenschaften seiner Familie ein Ende setzen will.
In Nordrhein-Westfalen reicht schon Schwarzfahren, um in der Statistik für Clankriminalität aufzutauchen
Teil der Realität und nicht einer Serie ist aber, dass mehrere Mitglieder einer arabischstämmigen Großfamilie Raubüberfälle auf Museen begangen haben. Auch Fälle von räuberischer Erpressung, Freiheitsberaubung und gefährlicher Körperverletzung wurden schon vor Gericht im Kontext der sogenannten Clankriminalität verhandelt.
Natürlich gäbe es Familien, die ihren Lebensunterhalt mit Kriminalität verdienten, erzählt Chahrour, der gerade an einem Buch zum Thema arbeitet. Den Begriff Clankriminalität sieht er sehr skeptisch: „Großfamilien, die als geschlossene Einheit Straftaten begehen, gibt es nicht.“ Zudem sei die Idee dieses Begriffs zutiefst rassistisch. Tatsächlich reicht es in Nordrhein-Westfalen aus, mehrfach beim Schwarzfahren mit einem vermeintlichen Clan-Namen erwischt zu werden, um in den Statistiken als clankriminell erfasst zu werden.
Die Palette der Straftaten, die unter Clankriminalität fallen, ist groß: von Mord und Totschlag über Betrug und Drogenbesitz bis hin zu Beleidigung und Verkehrsstraftaten. Dass Clankriminalität und Organisierte Kriminalität (OK) nicht das Gleiche sind, zeigen auch die Lagebilder der Berliner Polizei. Für das Jahr 2021 registrierte die Polizei 519 Personen, die sie der Clankriminalität zuordnen, von denen lediglich 135 Personen als Tatverdächtige in OK-Komplexen registriert wurden.
In Berlin lag der Anteil an allen Straftaten, die unter Clankriminalität fallen, 2021 bei lediglich 0,18 Prozent. „Das ist kein nennenswerter Faktor“, räumt auch Kriminaldirektor Stefan Majchrzak vom Landeskriminalamt Berlin ein. Dennoch findet er die besonderen Maßnahmen gegen diese Art von Kriminalität gerechtfertigt. Diese würde sich in Form von Bedrohungen, Verstößen gegen Verkehrsregeln, aber auch schweren Straftaten ausdrücken – wobei eben ein besonderes Element dazukäme: „Dieser gemeinsame ethnische, familiäre Ursprung.“
Ein rassistisches Konzept – oder etwa nicht?
Der familiäre Zusammenhalt und die Familienehre würden über allem stehen und könnten Straftaten begünstigen.Rassistisch sei das Konzept nicht, so Majchrzak. Weil „Berlin dem namensbasierten Ansatz nicht nachgeht“, so der Kriminaldirektor. Sie würden sich nur um die Personen kümmern, „bei denen wir glauben, dass sie ein hohes Potenzial haben, Clankriminalität zu verantworten oder zu begünstigen“. Es fände anhand der bundeseinheitlichen Definition eine Einzelfallprüfung statt. Nach dieser ist Clankriminalität das rechtswidrige Verhalten von Clanangehörigen, wobei diese die eigenen Normen und Werte über die deutsche Rechtsordnung stellen. Wie genau diese Prüfung abläuft, das sei laut Majchrzak aber geheime Verschlusssache und wird von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich gehandhabt. Es gibt jedoch eine öffentliche Liste von Indikatoren, die Majchrzak als „Ausführungsvorschrift“ bezeichnet. Anhaltspunkte sind demnach z. B. eine „patriarchalischhierarchisch geprägte Familienstruktur“, eine „mangelnde Integrationsbereitschaft“ oder das „Provozieren von Eskalationen“.
Melly Amira nennt genau das „strukturellen Rassismus“. Die Aktivistin aus Neukölln, die sich für Antirassismus einsetzt, sitzt vor einer Bar, von drinnen hört man leise Popmusik, von den Nachbartischen Gesprächsfetzen mal in Arabisch, mal in Deutsch. Melly Amira ist nicht ihr richtiger Name, sie nutzt ihn als Pseudonym, aus Angst vor Angriffen durch Rechtsradikale. Auch sie hat die Initiative „Kein Generalverdacht“ mitbegründet und engagiert sich heute in der „Kampagne für Opfer rassistischer Polizeigewalt“. Begonnen hat ihr politisches Engagement an einem Abend Anfang 2019, den sie mit Freunden in einer Shishabar verbringen wollte – als plötzlich Dutzende mit Maschinenpistolen bewaffnete Polizisten die Bar gestürmt hätten. Über zwei Stunden wären sie festgehalten worden, erzählt Amira. Ihnen sei verboten worden, zu essen und auf die Toilette zu gehen. „Alles wegen ein paar nicht richtig verzollten Packungen Shishatabak.“
Zwei Monate später geriet sie erneut in eine solche Kontrolle. In die einst so geliebten Shishabars geht sie seitdem nur noch sehr selten: „Ich habe keinen Bock mehr, stundenlang von der Polizei schikaniert zu werden.“ Dabei seien Shishabars immer ein sicherer Ort für nichtweiße Menschen gewesen. „Auch als Frau habe ich hier viel weniger Belästigungen erlebt als in anderen Bars.“
Die „Politik der 1.000 Nadelstiche“ soll für Sicherheit sorgen
In den vergangenen Jahren haben Razzien in Shishabars stark zugenommen. Diese gelten als Hotspots der Clankriminalität. Eigentlich sind es ganz normale Gewerbekontrollen, die die Polizei zusammen mit Behörden wie Zoll oder Gesundheitsamt durchführt. Doch manche Politiker sehen sie als das Mittel im Kampf gegen Clankriminalität. Mit der „Politik der 1.000 Nadelstiche“ will Neuköllns Bezirksbürgermeister Martin Hikel (SPD) für eine sichere Stadt sorgen. Diese Politik folgt der Logik, die auch Kriminaldirektor Stefan Majchrzak vertritt: Bereits kleinere Straftaten und Ordnungswidrigkeiten werden geahndet und verfolgt, um zu verdeutlichen, dass das Recht und die Stärke des Staates überall in der Stadt gelten. „Natürlich sind Gewerbekontrollen wichtig“, sagt Melly Amira. Aus jahrelanger Erfahrung als Kellnerin weiß sie, dass im gesamten Gastgewerbe oft wichtige Vorschriften nicht eingehalten werden. „Aber von den Verbundeinsätzen ist fast ausschließlich migrantisches Gewerbe betroffen. Das wird unter Generalverdacht gestellt.“
Eine vom Senat in Auftrag gegebene Studie der Hochschule für Wirtschaft und Recht sieht die Einsätze der Polizei ebenfalls kritisch. Die Gewerbekontrollen würden als „Türöffner“ für polizeiliche Arbeit genutzt, was aus rechtsstaatlicher Sicht problematisch sei. Zudem würden andere Branchen wie Immobilien oder Finanzanlagen, in denen ebenfalls Straftaten vorkämen, vernachlässigt und kaum überwacht.
Dem Vorwurf, dass die Kontrolleinsätze migrantische Gewerbetreibende unter Generalverdacht stellen würden, widerspricht Kriminaldirektor Majchrzak. Man würde nur dort kontrollieren, wo man von einem Zusammenhang zur Kriminalität überzeugt sei. „Wir haben ja selber nichts davon, in die falschen Objekte reinzugehen.“ Bei den Einsätzen würden dann eben auch Ordnungswidrigkeiten festgestellt, die nicht im Zusammenhang mit Clankriminalität stünden.
„Ich bin vor ein paar Jahren auch mal bei Rot über die Ampel gefahren. Bin ich deswegen jetzt clankriminell?“, fragt Mohammed Chahrour. Auch in Familien wie Müller und Meier gebe es Kriminelle, die sich abschotten würden, ohne dass Angehörige gleich in Sippenhaft genommen werden.
Illustration: Olivier Kugler